Der Islam

 

Die komplexe Welt des Islam

 

Die Darstellung einer von der drei großen Weltreligionen

 

Die Mitarbeiter 

Prof. Dr. Ludwig Hagemann

Prof. Dr. Peter Heine

Prof. Dr. Adel Theodor Khoury

 

Zusammengestellt

von

Georg Goetiaris

 

1. Kapitel

 

Entstehung der 'Abbasiden

 

Die Vorgeschichte der zweiten großen Dynastie der islamischen Welt, die sich nach al-'Abbas, einem Halbbruder des Vaters des Propheten Muhammad benannte, begann zu Ende des 7. Jahrhunderts, als sich unzufriedene Muslime unterschiedlichster regionaler, ethnischer und sozialer Herkunft unter der Führung eines Sohnes 'Alis, Muhammad Ibn Hanafiyya, und seiner Erben sammelten, um aktiv gegen das Regime der Umayyaden von Damaskus zu arbeiten. Muhammad ibn Hanafiyya behauptete, daß 'Ali ihm das Imamat bei seinem Tode übertragen hatte. Der religiöse Hintergrund dieser Opposition bestand aus Anhängern unterschiedlicher Formen des Schiismus. Während sich die Umayyaden zunächst dieser Angriffe leicht erwehren konnten, erwuchs ihnen mit Abu Muslim (gest. 754), der im persischen Khorasan mit großem Erfolg gegen sie agitierte, ein ernst zu nehmender Gegner. Abu Muslim war ein Iraner unbekannter Herkunft, der von Ibrahim, dem Sohn Muhammad ibn 'Alis, als Missionar für die Sache der 'Abbasiden in den Iran geschickt wurde. Dort machte  er sich die Unzufriedenheit der Iraner gegen die arabische Vorherrschaft im Umayyadenreich zunutze. Im Zuge seiner Bewegung schlossen sich ihm auch zahlreiche zoroastrische und buddhistische Fürsten an, die nun erst zum Islam konvertierten. Seine Propaganda hat deutliche messianistische Elemente. Das wird vor allem deutlich aus der Tatsache, daß er schwarze Fahnen hisste, die nach den entsprechenden Traditionen zu den Zeichen der bevorstehenden Ankunft des Messias gezählt werden. Da sich die Umayyaden zur gleichen Zeit im Iraq mit Aufständen der Kharidjiten und einer Gruppe gemäßigter Schiiten auseinandersetzen mussten und die arabischen Siedler im Iran, die eine ernst zu nehmende Gegnerschaft für Abu Muslim darstellten, untereinander zerstritten waren, gelang es ihm bis zum Jahre 745, Khorasan und den übrigen Iran unter seine Kontrolle zu bringen. Im Jahre 749 konnten die in verschiedenen Heeren zusammengefassten Anhänger der 'Abbasiden die Umayyaden aus dem Iraq vertreiben. Nach dem Tode des 'Abbasidenführers Ibrahim Al-Imam wurde dessen Bruder Abu l-'Abbas 749 zum Khalifen ausgerufen. Er nahm den Namen as-Saffah an. Dieser Herrschername ist signifikant für das chiliastische Moment in der 'abbasidischen Revolution; denn er bedeutet »derjenige, der reichlich gibt«. Eine der Eigenschaften, die dem Mahdi (s. dort) als der messianischen Figur des  Islams zugeschrieben wird, ist die der Großzügigkeit. Noch ein Jahr lang dauerten die Auseinandersetzungen mit den geschlagenen Umayyaden an, bis deren letzter Herrscher, Marwan, schließlich 750 in Ägypten getötet wurde.

 

Das Khalifat der 'Abbasiden

 

Die erste Phase der neuen Dynastie war von inneren Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Zweigen der Herrscherfamilie selbst, von dieser mit ihren Helfern in der Revolution und schließlich mit den verschiedenen Gruppen, die die Revolution unterstützt hatten, gekennzeichnet. Dabei spielte vor allem die Tatsache eine Rolle, daß die Schiiten, die die 'abbasidische Bewegung besonders unterstützt hatten, sich nun getäuscht sahen, da sie an den Früchten des Sieges nicht beteiligt wurden; denn die 'Abbasiden machten deutlich, daß sie bei aller bisherigen Neigung für die Anhänger 'Alis weiterhin an der sunnitischen Orthodoxie festhalten wollten. Für eine Konsolidierung der Position der 'Abbasiden sorgte der zweite Khalif, al-Mansur, der Gründer Bagdads. Er schuf ein zentrales Verwaltungssystem, das von der Hauptstadt Bagdad aus gesteuert wurde. Dabei unterstützten ihn Wezire aus der Familie der aus dem Iran stammenden Barmakiden, die für zahlreiche der folgenden 'Abbasidenherrscher ebenfalls von großer Bedeutung sein  sollten. Durch die Beteiligung der Barmakiden an der Regierungsverantwortung verstärkte sich der iranische Einfluss im 'Abbasidenreich. Das kommt zum Ausdruck durch die Tatsache, daß sassanidische Hof- und Verwaltungstechniken eingeführt wurden, daß aber auch mehr und mehr persische Kultur und Kunst an Einfluss gewann. Diese Entwicklung ging auf die Kosten der arabischen Stammessolidarität. Stattdessen wurde die islamische Orthodoxie betont, um damit zugleich dem kosmopolitischen 'Abbasidenreich eine einheitliche ideologische Grundlage zu verschaffen. Ebenso wurde mit der Hervorhebung der religiösen Stellung des Khalifen dessen Autorität gestärkt, was wiederum auf Kosten der traditionellen Religionsgelehrten ging. Am deutlichsten wurde dies mit dem Versuch des Khalifen al-Mutawakkil, eine von der hellenistischen Philosophie beeinflusste Form des Islams, die Mu'tazila, als alleinige Konfession des Islams einzuführen. Das 'Abbasidenreich erwies sich schon 50 Jahre nach seiner Entstehung als zu groß, um mit den üblichen Kommunikations-, Verkehrs- und Verwaltungstechniken kontrolliert zu werden. In den weiter von der Herrschaftszentrale entfernten Gebieten entstanden lokale Dynastien, auf deren politisches und militärisches Handeln die Khalifen oder ihre Administration keinen Einfluss mehr hatten. Lediglich die formale Zustimmung zur Investitur blieb  die einzige Möglichkeit des Khalifen, seine Oberhoheit zu deklarieren. Da auch die Steuereinnahmen dieser Regionen ausfielen, waren die Khalifen später gezwungen, ihre Zustimmungserklärungen gegen entsprechende Zahlungen abzugeben. Doch auch im Iraq selbst nahm die Macht der Khalifen mehr und mehr ab. In vielen Fällen gerieten sie unter den Einfluss ihrer, vor allem aus türkischen Truppen bestehenden, Leibgarden. Es kam zu schweren Konflikten zwischen diesen Garden und der Bevölkerung Bagdads, die dazu führten, daß der Khalif al-Mu'tasim sich veranlasst sah, seine Residenz aus Bagdad zu verlegen und eine neue Residenz in Samarra, nördlich der alten Hauptstadt, zu errichten. Die hier regierenden Khalifen waren den Wünschen und der Willkür ihrer Prätorianer in noch stärkerem Maß ausgesetzt. Lediglich der Khalif al-Mutawakkil versuchte, sich aus dieser Bevormundung herauszuwinden, indem er wieder nach Bagdad zurückkehrte und versuchte, mit Hilfe der Bevölkerung und der islamischen Theologen die Macht der Garden zu brechen. Ein Erfolg war ihm bei diesem Versuch jedoch nicht beschieden. Die faktische Macht der 'Abbasiden kam zu einem Ende, als sie 945 unter die Kontrolle der schiitischen Regionaldynastie der Buyiden gerieten, die für viele Jahre die Politik des 'abbasidischen Restreiches bestimmten. Bis zur Zerstörung Bagdads im Jahr 1258 blieb das Khalifat eine rein Titulare Institution, die den sunnitischen Islam repräsentierte. Nach der Eroberung Bagdads durch die Mongolen führte die 'Abbasidendynastie eine Schattenexistenz unter den Mamlukensultanen in Kairo, bis schließlich der letzte 'Abbasidenkhalif 1517 von dem Osmanensultan Selim I. abgesetzt wurde.

 

Nicht-arabische Einflüsse

 

Während die Umayyaden eine eindeutig arabische Dynastie waren, gerieten die 'Abbasiden unter starken iranischen Einfluss. Dokumentiert wird diese Tatsache nicht zuletzt durch die Verlegung der Hauptstadt von Damaskus nach Bagdad. In den Armeen des 'abbasidischen Khalifen ging der arabische Einfluss zugunsten von Iranern und Türken ebenfalls zurück. Die Verwaltung des Reiches wurde nach dem iranischen Vorbild ausgerichtet. So bildete man eine Reihe von Ministerien (diwan), die allesamt von einem Wezir kontrolliert wurden. Diese Form der Administration islamischer Staaten blieb bis zum Beginn des Kolonialzeitalters erhalten. Im Grunde waren es die 'Abbasiden, die den Islam als einheitliches, als universales Kultursystem etablierten und die ethnische Vorherrschaft der Araber zurückdrängten. Die 'Abbasiden kamen als religiöse Bewegung an die Macht, und sie suchten in der Religion die Basis für die Autorität, mit der sie ihr Reich regierten. Obwohl es ihnen gelang, den sunnitischen Islam als »Konfession« zu festigen, sahen sie sich doch einer einflussreichen religiösen Opposition gegenüber, die vor allem schiitischer Herkunft war. Es ist vor allem die Siebener- Schia, die in der Gestalt der Dynastie der Fatimiden in Nordafrika und in Ägypten den 'Abbasiden schwer zu schaffen machte.

 

& Literatur: M. M. AHASAN, Social Life under the Abbasides, London 1979; H. BUSSE, Khalif und Großkönig, Beirut 1969; A. MEZ, Die Renaissance des Islams, Heidelberg 1924; J. VAN ESS, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, 5 Bde., Berlin 1991-1993; W. MUIR, The Chaliphate, its Rise, Decline and Fall, Edinburgh 1924.

P. Heine

 

Aberglaube

 

Wenn unter Aberglaube Glaubensformen, Vorstellungen und religiöse Praktiken verstanden werden, die von der offiziellen Doktrin einer Religion abweichen und in vielen Fällen nur in einem begrenzten geographischen Bereich festzustellen sind, kann er im Islam nur eine untergeordnete Rolle spielen; denn die Doktrin des Islams besteht im Grunde lediglich aus zwei Elementen: dem Glauben an den einen Gott und an die Prophetenschaft Muhammads, die sich im Koran dokumentiert. Im Koran als der höchsten rechtlichen Autorität im Islam finden sich zahlreiche Hinweise auf Wesen und Phänomene, die in anderen Zusammenhängen und in anderen Religionen als Aberglaube bezeichnet würden. In diesen Texten ist die Rede von Djinnen, Wesen aus Feuer, die gut oder böse sein können, die dem Menschen schaden oder nutzen. Dort ist aber auch die Magie ein Thema. So heißt es in Sure 113: »Sprich: Ich suche Zuflucht beim Herrn des Frühlichtes vor dem Unheil dessen, was Er erschaffen hat, und vor dem Unheil der Finsternis, wenn sie einsetzt; und vor dem Unheil der Hexen, die auf Knoten blasen ...« Der Glaube von Muslimen an die Existenz derartiger Phänomene kann daher nicht als Aberglaube verstanden werden. So mussten islamische Reformer des beginnenden 20. Jahrhunderts wie Muham mad Rashid Rida die im Koran bezeugte Existenz von Djinnen in Rechtsgutachten bestätigen. Sie als die Beschreibung von Bazillen und anderen Überträgern von Krankheiten zu interpretieren, wurde auch von ihm nicht als zulässig angesehen. Die zahlreichen Mittel, mit denen sich die Gläubigen vor Schaden zu schützen suchten, die sie Djinnen oder anderen Geisterwesen zuschrieben, stellen lediglich eine logische Konsequenz aus der Akzeptanz dieser Wesen dar. Man wird also verschiedene Formen von organisiertem Exorzismus schwerlich als Aberglauben definieren können, auch wenn sie noch so merkwürdig anmuten. Zahlreiche andere Phänomene aus der religiösen Praxis weiter Bevölkerungsschichten finden dagegen keine Unterstützung in den heiligen Texten der Muslime. Hier ist vor allem die islamische Heiligenverehrung zu nennen. In der Mehrzahl der Fälle läßt sie sich aus den Religionen herleiten, die vor der Islamisierung in den jeweiligen Regionen verbreitet waren, seien dies nun Christentum, indische Religionen oder westafrikanische Ahnenkulte. Ihre Rituale sind islamisiert worden und haben dazu beigetragen, daß der Islam sich in der jeweiligen Bevölkerung fest verwurzelte. Daher gab und gibt es eine Mehrheit von Muslimen, die an die Kraft von Heiligen, für sie bei Gott zu intervenieren, fest glauben. In einem gewissen Maß hat dieser Glaube lediglich einen lokalen oder  regionalen Charakter. Bestimmte Heilige werden nur in einer Region verehrt. Doch schließt sich die Heiligenverehrung an verschiedenen Orten nicht gegenseitig aus. Die Anhänger der verschiedenen Heiligen kennen ganze Genealogien, die sie miteinander verbinden. Die Verehrer eines Heiligen leugnen nicht die Heiligkeit und Macht eines anderen. Man muß daher bei der Heiligenverehrung im Islam von einem universalen Phänomen sprechen. Eine Anzahl von muslimischen Religionsgelehrten sieht diese Praktiken ohne große Begeisterung, ist aber kaum in der Lage, sie wirksam zu bekämpfen. Islamische Modernisten und Reformer haben aus religiösen und politischen Gründen versucht, gegen die Heiligenverehrung vorzugehen. Sie sahen in ihr einen Angriff auf den islamischen Monotheismus und damit den größten Verstoß gegen die Doktrin des Islams. Die lokalen und regionalen Traditionen der Heiligenverehrung machten sie außerdem verantwortlich für die politische Schwäche der islamischen Welt gegenüber den europäischen Kolonialmächten. Dennoch war die Heiligenverehrung zu stark, als daß sie durch derartige Aktivitäten hätte in Gefahr gebracht werden können. Angesichts seiner weiten Verbreitung ist es daher schwierig, die Heiligenverehrung dem islamischen Aberglauben zuzurechnen.

    Am ehesten kann man noch Vorstellungen, die mit  dem »Bösen Blick« verbunden sind, dem Aberglauben zurechnen. Sie sind in vielen Teilen der islamischen, aber auch ganz allgemein der mediterranen Welt verbreitet. Besonders glückliche oder erfolgreiche Personen sind durch den Neid anderer Menschen gefährdet. Gefährdet sind kleine Kinder, Jungen zumal, Bräute und Frauen im Kindbett. Die Abneigung gegenüber einer anderen Person wird durch die Augen übertragen und kann verschiedene Formen von Schaden verursachen. Kinder können infolge des Bösen Blicks sterben und Frauen unfruchtbar werden. In manchen Fällen sind sich die Träger des Bösen Blicks dieser unheilvollen Fähigkeit gar nicht bewusst. Personen, die ihre Begabung kennen, setzen sie willentlich ein. Gegen den Bösen Blick kann man sich durch verschiedene Mittel schützen. Dazu gehören Amulette, die die Form von Augen haben, und andere magische Praktiken wie das Anbringen von Abwehrsprüchen und Zeichnungen an Häusern. Kleine Jungen werden in Mädchenkleider oder in besonders armselige Kleider gesteckt, damit sie keine Aufmerksamkeit erregen. Bräute werden stark verschleiert. In besonders schöne Gegenstände wie Teppiche werden bewusst Fehler eingearbeitet, um die Gefahr des Bösen Blicks zu vermeiden.

 

& Literatur: M. HORTEN, Die religiöse Gedankenwelt des Volkes im heutigen Islam, Halle  1917/18; R. KRISS U.H. KRISS-HEINRICH, Volksglaube im Bereich des Islams, 2 Bde., Wiesbaden 1960/62; R. DOUTTÉ, Magie et Religion, Alger 1908; V. CRAPANZANO, Die Hamadsha, Stuttgart 1981; B. DONALDSON, The Wild Rue. A Study of Muhammadan Magie and Folklore in Iran, London 1938; M. GILSENAN, Recognizing Islam, London 1982; T. HAUSCHILD, Der Böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen, Berlin 1982; R. WEFFLER, Islam in Practice. Religious Beliefs in a Persian Village, New York 1988.

P. Heine

 

2.Kapitel

 

Abfall vom Glauben/Apostasie

 Strafe der Apostasie

 

Für die Menschen, die den Islam angenommen haben, bilden der Glaube und das Gesetz des Islams als Ausdruck des Willens Gottes die Mitte ihres Lebens. Der Glaube bedingt alle anderen Dimensionen des Lebens und des Handelns, er verleiht ihren Werken Bestand und Wert. Der Unglaube ist die schwerste Sünde, er macht die Werke des Menschen nichtig und wertlos. Gott nimmt die Spenden der Ungläubigen nicht an, und er vergibt auch nicht dem, der in seinem Unglauben stirbt.

    Ähnlich beurteilt der Koran den Abfall vom Glauben und verurteilt mit äußerster Strenge die Abtrünnigen: Ihre Buße wird nicht angenommen werden, der Fluch Gottes und der Engel und der Menschen insgesamt liegt auf ihnen, und wenn sie in diesem Zustand sterben, werden sie im Höllenfeuer ewig weilen ...   

Der Wortlaut des Korans sieht aber als Strafe für den Abfall vom Glauben nur den Zorn Gottes und eine jenseitige Pein vor. Einige Rechtsgelehrte des Islams zitieren jedoch in diesem Zusammenhang eine  Koranstelle, die sich zwar direkt auf die Heuchler in den Reihen der Muslime bezieht, die aber auch auf den Fall der Apostasie angewandt wird: 4,88-89. Der Koran befiehlt dort, irregegangene Heuchler als Gefahr für den Bestand der Gemeinschaft anzusehen und, »wenn sie sich abkehren«, sie zu greifen und zu töten, wo immer die Gläubigen sie finden.

    Aber maßgeblich für die praktische rechtliche Behandlung der Apostasie ist neben dem Koran auch die Tradition des Propheten Muhammad und seiner ersten Gemeinde. Von Muhammad werden Sprüche überliefert, die die Apostasie mit der Todesstrafe belegen: »Wer seine Religion wechselt, den tötet!« (Bukhari). – »Das Blut eines Muslims ist nur in drei Fällen freigegeben: bei Apostasie nach dem Glauben, bei Unzucht nach legitimer Eheschließung und bei einem nicht als Blutrache verübten Mord« (Bukhari; Muslim). Auch nach dem Tode Muhammads wurde diese Vorschrift angewandt, vornehmlich in Zusammenhang mit dem Krieg gegen die arabischen Stämme, die sich vom Islam abgewandt hatten (sog. Ridda- Krieg), und danach auch unter dem Khalifen 'Umar.

    So sind sich die Gelehrten der verschiedenen Rechtsschulen des Islams darüber einig, daß der Abfall vom Glauben mit der Hinrichtung des Renegaten geahndet werden muß, denn die Apostasie gilt als Auflehnung gegen Gott und als Aufkündig Mitgliedschaft in der islamischen Gemeinschaft und damit als eine direkte Gefährdung dieser Gemeinschaft in ihrem Bestand.

    Mahmud Shaltut, Azhar-Professor und anerkannte Autorität im Islam, wendet gleichwohl ein: »Viele Rechtsgelehrte meinen, daß solche Strafen durch die Überlieferungen, die von einzelnen Gewährsmännern tradiert werden, nicht bestätigt werden können und daß der Unglaube allein kein Grund ist, das Blut (des Ungläubigen) freizugeben, sondern der Grund zur Freigabe des Blutes ist die Bekämpfung der Gläubigen, der Angriff gegen sie und der Versuch, sie von ihrem Glauben abzubringen« (Al-Islam 'aqida wa shari'a, Beirut, 8. Aufl. o.J. etwa 1978, S. 281).

 

Tatbestand der Apostasie

 

Da es im Falle der Apostasie um die Todesstrafe geht, fordern die muslimischen Rechtsgelehrten, daß der Abfall vom Glauben zuerst eindeutig und zweifelsfrei festgestellt wird. Dazu habe der große Rechtsgelehrte Malik gesagt: Wenn jemand etwas sagt oder tut, was auf 99 Weisen als Unglaube und auf nur eine Weise als Glaube verstanden werden kann, so ist die Sache als Glaube zu deuten.

    Zur Feststellung des Tatbestandes der Apostasie dienen deutliche, rechtsrelevante Tatsachen. Darunter versteht man eindeutige Äußerungen oder Taten, z.B. die Lästerung Gottes, das Beschimpfen des Propheten Muhammad, die Leugnung unstrittiger religiöser Pflichten, auch sogar die Leugnung der ausdrücklichen Speiseverbote des Islams.

    Eindeutiges Zeichen der Apostasie können auch Taten sein, wie die Anbetung von Idolen, die verächtliche Behandlung des Korans, die Ausübung der Zauberei, das aus Überzeugung vorgenommene Sich-Anschließen an die Feinde des Islams. Zur einwandfreien Feststellung des Tatbestandes der Apostasie gehört ferner das Zeugnis von zwei glaubwürdigen Männern, die übereinstimmend dieselbe Aussage oder dieselbe Handlung bezeugen, aufgrund derer sie den Angeklagten der Apostasie bezichtigen.

    Der Tatbestand der Apostasie kann aber nur im Fall eines erwachsenen, seiner Sinne mächtigen und nicht unter Zwang stehenden Muslims zur Verhängung der entsprechenden Strafe durch den Richter führen. So ist ein Kind rechtlich der Apostasie und auch der Strafe nicht fähig. Desgleichen sind Geisteskranke, Betrunkene usw. von der Anwendung der hier behandelten Vorschriften ausgenommen. Wer unter Zwang handelt und glaubensfeindliche Aussagen macht, wird nicht zur Rechenschaft gezogen und zum Tod verurteilt.

 

Apostasie der Frau

 

Die Frage, ob die Apostasie bei Frauen genauso geahndet werden soll wie bei Männern, ist zwischen den Rechtsschulen umstritten. Die Shafi'iten, die Malikiten und die Hanbaliten halten die Apostasie der Frau für genauso schwer wie die des Mannes, daher verlangen sie die Todesstrafe auch für die Frau. Auch habe Muhammad in seinem Spruch: »Wer seine Religion wechselt, den tötet!«, keinen Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht. Im übrigen seien zur Zeit Muhammads abtrünnige Frauen den Vorschriften der Apostasie (Aufruf zur Reue und Todesstrafe) unterworfen worden.

    Die Hanafiten, deren Schule u.a. in der Türkei vorherrscht, plädieren dafür, die Frau zur Rückkehr zum islamischen Glauben durch Schläge oder Gefängnis zu bewegen. Sie gründen ihre Meinung darauf, daß Muhammad die Tötung der Frauen im Heiligen Krieg verboten habe, daß die Apostasie der Frau nicht dieselbe freie Entscheidung ist und dieselbe Wirkung im Leben der Gemeinde hat wie die des Mannes und daß man daher auf die Frau nicht dieselbe Strafe anwenden könne wie auf den Mann. Im übrigen habe Muhammad selbst es getadelt, daß eine Frau wegen Apostasie getötet wurde. Die, deren Tod er bejaht hatte, war nicht nur eine Ab trünnige gewesen, sondern auch eine Hexe und eine Dichterin, und sie hatte dreißig Söhne gehabt, die sie gegen den Propheten aufhetzte. Aus diesen Gründen habe er befohlen, sie zu töten.

    Interessant ist folgendes Argument der Hanafiten: In Glaubensfragen wird die Strafe im Prinzip im Jenseits verhängt. Wer die Entscheidung schon hier herbeiführen will, handelt gegen den Zweck Gottes, die Menschen in ihrem Glauben und in ihrer Frömmigkeit auf die Probe zu stellen. Eine Ausnahme bildet die Bekämpfung der Gemeinschaft, was im Falle der Frauen nicht gegeben ist. Andererseits ist die Strafe ein Mittel, die Interessen der Gemeinschaft zu schützen. Dies wird aber nur erreicht, wenn man nur die tötet, die fähig sind, gegen die Gläubigen zu kämpfen, d.h. die Männer.

 

Frist zur Umkehr

 

Eine andere umstrittene Frage ist die Notwendigkeit, den Abtrünnigen vor der Hinrichtung zur Reue und Umkehr aufzurufen. Die Mehrheit der Rechtsgelehrten plädiert dafür, daß der Abtrünnige zur Rückkehr aufgerufen werden soll. Man muß ihn warnen und ihm eine Frist von drei Tagen gewähren, damit er sich doch noch für die Rückkehr zum Glauben entscheiden und sich zur Solidarität mit der Gemeinschaft bekennen kann. Tut er das nicht, muß er dann hingerichtet  werden. Denn das sei die Praxis gewesen, die von Muhammad empfohlen wurde. Auch werden die Feinde vor der Durchführung des Heiligen Kampfes zur Annahme des Islams aufgerufen.

 

Weitere Folgen

 

Die Apostasie zieht weitere Folgen nach sich. Sie macht eine bestehende Ehe nichtig, daher muß der Abtrünnige von seinem Ehepartner getrennt werden. Sollte er sein Verbrechen bereuen und wieder zum Glauben zurückkehren, so muß er, bevor er zu seinem Partner zurückkehrt, einen neuen Ehevertrag abschließen. Eine im Rahmen seiner neuen nicht-islamischen Gemeinschaft eventuell eingegangene Ehe wird als nichtig betrachtet.

    Was die Erbschaft des Abtrünnigen anbelangt, so bestehen darüber hauptsächlich zwei Meinungen. Die einen entscheiden, daß das Eigentum des Abtrünnigen, der als religionslos gilt, dem allgemeinen Besitz der Gemeinschaft zugeschlagen werden soll, denn Gläubige können einen rechtlich als glaubenslos erklärten Menschen nicht beerben. Die Hanafiten unterscheiden zwischen dem, was jemand vor seiner Apostasie besaß (das wird von seinen muslimischen Angehörigen geerbt), und dem, was er sich nach der Apostasie erworben hat (das wird dem Besitz der Allgemeinheit zugeschlagen).

    Zum Eigentumsrecht und zu den sonstigen rechtlichen Handlungen des Abtrünnigen gibt es verschiedene Meinungen. Die Mehrheit betrachtet das Recht des Abtrünnigen auf sein Eigentum als weiterhin bestehend. Seine Handlungen (wie Kauf und Verkauf, Vertrag usw.) sind zunächst einmal storniert. Wenn der Abtrünnige sich wieder zum Islam bekennt, dann werden sie wieder gültig; wenn er auf seiner Apostasie besteht, dann werden sie nichtig. Abu Yusuf und der große Hanafit Shaybani meinen jedoch, daß rechtsrelevante Handlungen des Abtrünnigen gültig und wirksam sind.

 

& Literatur: S. M. ZWEMER, The law of apostasy in Islam, London 1924 (deutsch: Das Gesetz wider den Abfall vom Glauben, Gütersloh 1926); S. A. RAHMAN, Punishment of apostasy in Islam, Lahore 1972; A. TH. KHOURY, Toleranz im Islam, Altenberge 21986 29-30.110-115.

A. Th. Khoury

 

 

 

Weitere Folgen

 

Die Apostasie zieht weitere Folgen nach sich. Sie macht eine bestehende Ehe nichtig, daher muß der Abtrünnige von seinem Ehepartner getrennt werden. Sollte er sein Verbrechen bereuen und wieder zum Glauben zurückkehren, so muß er, bevor er zu seinem Partner zurückkehrt, einen neuen Ehevertrag abschließen. Eine im Rahmen seiner neuen nicht-islamischen Gemeinschaft eventuell eingegangene Ehe wird als nichtig betrachtet.

    Was die Erbschaft des Abtrünnigen anbelangt, so bestehen darüber hauptsächlich zwei Meinungen. Die einen entscheiden, daß das Eigentum des Abtrünnigen, der als religionslos gilt, dem allgemeinen Besitz der Gemeinschaft zugeschlagen werden soll, denn Gläubige können einen rechtlich als glaubenslos erklärten Menschen nicht beerben. Die Hanafiten unterscheiden zwischen dem, was jemand vor seiner Apostasie besaß (das wird von seinen muslimischen Angehörigen geerbt), und dem, was er sich nach der Apostasie erworben hat (das wird dem Besitz der Allgemeinheit zugeschlagen).

    Zum Eigentumsrecht und zu den sonstigen rechtlichen Handlungen des Abtrünnigen gibt es verschiedene Meinungen. Die Mehrheit betrachtet das Recht des Abtrünnigen auf sein Eigentum als weiterhin bestehend. Seine Handlungen (wie Kauf und Verkauf, Vertrag usw.) sind zunächst einmal storniert. Wenn der Abtrünnige sich wieder zum Islam bekennt, dann werden sie wieder gültig; wenn er auf seiner Apostasie besteht, dann werden sie nichtig. Abu Yusuf und der große Hanafit Shaybani meinen jedoch, daß rechtsrelevante Handlungen des Abtrünnigen gültig und wirksam sind.

  

& Literatur: S. M. ZWEMER, The law of apostasy in Islam, London 1924 (deutsch: Das Gesetz wider den Abfall vom Glauben, Gütersloh 1926); S. A. RAHMAN, Punishment of apostasy in Islam, Lahore 1972; A. TH. KHOURY, Toleranz im Islam, Altenberge 21986 29-30.110-115.

 

A. Th. Khoury

 

 

3. Kapitel

 

Abraham

 

Abraham (arab. Ibrahim) spielt im Glauben der Muslime eine große Rolle.

    In den frühen Suren des Korans – vorwiegend aus der zweiten Mekkanischen Phase der Verkündigung Muhammads – gilt Abraham als Gottesgesandter mit dem Auftrag, das Volk der Juden zu ermahnen und es an die Notwendigkeit der Verehrung des einen und einzigen Gottes zu erinnern. Zu späterer Zeit – in der medinischen Periode seiner Verkündigung, nachdem sich Muhammad von den Juden abgesetzt hatte, wird Abraham als der erste Muslim bezeichnet, der zusammen mit seinem Sohn Ismael (Isma'il) das Heiligtum der Ka'ba in Mekka gegründet habe.

    In anschaulicher Weise schildert der Koran Abrahams Weg zu Gott, seine Abkehr vom Polytheismus und seine Hinkehr zum Monotheismus. Voraussetzung für seinen Weg zu Gott, so der Koran, war Abrahams Vertrauen, daß Gott ihm den rechten Weg zeigen werde.

    Der Koran begründet diese Haltung so: Weil Abraham ein »gesundes Herz«, das »rechte Verhalten« und ein besonderes »Wissen«  besaß – Eigenschaften und Qualitäten, die er nicht sich selbst, sondern Gott verdankte –, fand er  zum Glauben an den einen und einzigen Gott. So von Gott beschenkt, wusste Abraham die Zeichen der Schöpfung zu deuten und konnte durch Betrachtung der Sterne, des Mondes und der Sonne letztlich den erkennen, »der Himmel und Erde erschaffen hat«: Gott.

    Diese Glaubensweisheit, daß es einen einzigen Gott gibt, bleibt für Abraham nicht ohne Konsequenzen. Er selbst wird gegen den erbitterten Widerstand seines Vaters Azar (nach Ex 11,26: Terach) seinen Zeitgenossen zum Verkünder dieses Glaubens. Sein Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer und Richter, gibt der Koran so wieder, » ...der mich erschaffen hat und mich nun rechtleitet, und der mir zu essen und zu trinken gibt und, wenn ich krank bin, mich heilt, und der mich sterben lässt und dann wieder lebendig macht, und von dem ich erhoffe, daß Er mir am Tag des Gerichts meine Verfehlung vergebe«.

    Dieser Glaube an Gott zwingt Abraham zur Tat: Er zerstört die Götterbilder seiner Landsleute, die ihn dann nach einem Disput ergreifen und ins Feuer werfen. Gott aber errettet ihn und bestätigt so Abrahams göttlichen Sendungsauftrag.

    Aufgrund dieses göttlichen Eingreifens und der wunderbaren Sendungsbestätigung hat ein Teil von  Abrahams Landsleuten, so sagt die muslimische Überlieferung, zum Glauben an den einen und einzigen Gott gefunden; unter ihnen war nach dem Koran auch Lot.

    Abraham trennte sich, so die Überlieferung weiter, von seiner Familie und seiner Sippe und wanderte zusammen mit seiner Frau Sara und dem gläubig gewordenen Lot aus dem Land der Ungläubigen über Harran nach Sham – Palästina – aus.

    Nach seiner Auswanderung ergeht an Abraham die Verheißung einer auserwählten Nachkommenschaft. Trotz seiner göttlichen Erwählung und Sendung wird Abraham in eine schwere Glaubensprüfung geführt: er soll seinen Sohn opfern. Beide – Vater und Sohn – ergeben sich in den unerforschlichen Willen Gottes. Als Abraham dann seine Bereitschaft, den göttlichen Befehl zu vollstrecken, unter Beweis stellen will, verhindert Gott durch sein Eingreifen die Tötung des Sohnes. Zu der Beantwortung der Frage, welcher Sohn denn geopfert werden sollte, Isaak oder Ismael, gehen die Meinungen der Muslime auseinander. Die Mehrheit der früheren Kommentatoren spricht sich in Übereinstimmung mit der biblischen Überlieferung  für Isaak aus.

    Abrahams Opfer gilt im Islam als Vorbild des rituellen Opfers während der Wallfahrtszeit in der Nähe von Mekka, wenn der Pilger die vorgeschriebenen Riten, u.a. das Schlachten von Opfertieren – Kamel, Rind, Schaf oder Ziege – vollzieht. Dieses Opferfest ('Id al- Adha), das in der gesamten islamischen Welt gefeiert wird, findet am 10. Tag des Wallfahrtsmonats (Dhu l-Hidjja) statt.

    Nicht nur im Hinblick auf das rituelle Opfer zur Wallfahrtszeit wird Abraham als Vorbild angesehen, sondern er gilt als das Vorbild aller Gott ergebenen Gläubigen schlechthin. In diesem Sinne wird er als der erste Muslim vorgestellt. Ihm und seinem Sohn Ismael wird die Errichtung des Heiligtums der Ka'ba in Mekka zugeschrieben, Gebet und Almosen, Wallfahrt, gute Werke. Deswegen bekennt sich Muhammad mit Nachdruck zum Glauben Abrahams hat Gott selber an Muhammad die Weisung ausgegeben: »Folge der Glaubensrichtung Abrahams! « Der Koran spricht gar von den »Blättern Abrahams«.

danach hat offensichtlich bereits Abraham von Gott eine Offenbarungsschrift erhalten.

    Schließlich gilt Abraham als Urahne und Vater der Propheten. Muhammad nimmt unter den Nachkommen Abrahams eine bevorzugte Stellung ein, die so erklärt wird: Abraham hatte zwei Söhne, Ismael, den Sohn der Hagar, und Isaak, den Sohn der Sara. Aus Isaaks Geschlecht leiten sich die im Koran genannten zahlreichen Propheten und Gesandten Gottes ab, wohingegen aus Ismaels Geschlecht nur ein einziger, aber ein um so gewichtiger Nachfahre stammt, der von Gott zum Propheten und Gesandten bestellt wurde: Muhammad. Ihn hat bereits Abraham im Gebet erfleht.

    So sind nach islamischem Verständnis aus Abrahams Stammbaum zwei gewichtige Zweige hervorgegangen: auf der einen Seite Muhammad, auf der anderen Seite die Gesamtheit der übrigen Propheten.

    Mit seiner Deutung von Abraham geht der Koran über das hinaus, was die jüdisch-christliche Tradition sagt. Durch die eigene Rückbindung seines Glaubens an den Glauben Abrahams weist Muhammad die Ansprüche von Juden und Christen zurück, in der Tradition Abrahams zu stehen. Bei aller Verschiedenheit der Interpretation sind aber doch wesentliche Gemeinsamkeiten erkennbar. Die Segensverheißung gründet in Abrahams Glaubensgehorsam. Seine Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, offenbart seine Glaubenstreue. Deswegen wird er im Koran »Anvertrauter« genannt.

 

& Literatur: Y. MOUBARAC, Abraham dans le Coran (Études musulmanes V), Paris 1958; H. STIEGLECKER, Die Glaubenslehren des Islams, Paderborn/München/Wien 1962, 21983, 196-210; A. TH. KHOURY, Einführung in die Grundlagen des Islams (Islam und westliche Welt, Bd. 3), Graz/Wien/Köln 21981, 52-57; L. HAGEMANN, Propheten – Zeugen des Glaubens. Koranische und biblische Deutungen (Religionswissenschaftliche Studien 26), WürzburgAltenberge 21993, 51-60; L. HAGEMANN, Christentum und Islam zwischen Konfrontation und Begegnung (Religionswissenschaftliche Studien 4), Würzburg/Altenberge 31994, 36ff. (Lit.); K.-J. KUSCHEL, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München/Zürich 1994.

 

L. Hagemann

 

4. Kapitel

 

Adam

 Adam ist der erste Mensch, er wird der Vater der Menschen genannt. Über die Entstehung Adams enthält der Koran Angaben, die an die Beschreibung in der Bibel (Gen 1-4) und an die Ausführungen jüdischer und christlicher Legenden knüpfen. Diese Legenden haben darüber hinaus auch die Erzählungen der islamischen Literatur inspiriert im Hadith in den Erzählungssammlungen, in den Geschichtsbüchern sowie in den Korankommentaren.

 

 

Aussagen des Korans

Für den Koran ist der Mensch, dessen Prototyp Adam ist, das Geschöpf, das Gott vor allen anderen ausgezeichnet und bevorzugt hat.  Himmel, Erde und Luftraum sowie die Himmelskörper wurden von Gott in den Dienst des Menschen gestellt.

    Vor der Erschaffung Adams teilt Gott den Engeln sein Vorhaben mit: »Ich werde auf der Erde einen Nachfolger einsetzen«, einen Nachfolger früherer, untergegangener Generationen oder einen Nachfolger des Schöpfers, damit er die Schöpfung nach den Gesetzen Gottes verwaltet. Trotz der Einwände der Engel erschafft Gott Adam und zeichnet ihn durch ein besseres Wissen um die Dinge über die  Engel aus.

    Bei der Erschaffung Adams hat Gott nach dem Koran ein besonderes Verfahren angewandt: Er hat ihn aus Erde, aus Ton und Schlamm gebildet und ihm von seinem Geist eingeblasen. Dabei hat er ihm eine schöne Gestalt gegeben und ihn mit »Gehör, Augenlicht und Herz«, mit Augen, Zunge und Lippen ausgestattet. Gott tritt bei seiner schöpferischen Tätigkeit jedoch nicht durchweg als Bildner und Gestalter auf. Seine ureigene Art besteht darin, durch die Kraft seines schöpferischen Wortes den Menschen ins Dasein zu rufen: »Mit Jesus ist es vor Gott wie mit Adam. Er erschuf ihn aus Erde, dann sagte Er zu ihm: Sei! und er war«. Zur Erschaffung der Frau enthält der Koran nur undeutliche Angaben: »O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen erschuf, aus ihm seine Gattin erschuf und aus ihnen beiden viele Männer und Frauen entstehen und sich ausbreiten ließ« – »Und es gehört zu seinen Zeichen, daß Er euch aus euch selbst Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen wohnet«.

    Es gibt in der islamischen Überlieferung eine Erzählung über die Erschaffung Evas, die sich wie eine  Parallele zu den Angaben der Bibel anhört: »Als Gott ... Adam im Paradies wohnen ließ, war dieser allein und hatte niemanden, mit dem er vertrauten Umgang pflegen konnte. Da ließ Gott Schlaf über ihn kommen. Dann nahm er aus seiner Seite eine seiner Rippen heraus und setzte an ihre Stelle Fleisch. Aus ihr schuf er Eva« (nach Ibn 'Abbas).

    Adam und Eva wohnten im Paradies Gottes. Gott erlaubte ihnen, von allem zu essen mit Ausnahme des einen Baumes. Aber Satan verführte sie, sie übertraten das Verbot Gottes und wurden daraufhin aus dem Paradies vertrieben. Adam bekannte das Unrecht, das sie getan haben, er zeigte Reue und Umkehr, und Gott nahm seine Umkehr an und wandte sich ihm gnädig zu.

    Die Zuwendung Gottes drückt sich darin aus, daß er ihm eine Verpflichtung auferlegt und eine Art Verheißung und Bund angeboten hat, aber Adam vergaß diese Verpflichtung. Dennoch spricht der Koran von der Erwählung Adams: »Dann erwählte ihn sein Herr, und Er wandte sich ihm zu und leitete (ihn) recht«. So ist Adam Träger der Offenbarung Gottes und der erste Prophet, der die Lehren und die Rechtsbestimmungen Gottes an seine Nachkommenschaft weiterzugeben hat.

    Anzumerken ist hier, daß die islamische Theologie  zwar von der Ursünde Adams spricht, aber die christliche Lehre von der Erbsünde ablehnt. Denn Gott hat doch Adam verziehen; überdies stellt der Koran fest: »Jede Seele erwirbt (das Böse) nur zu ihrem eigenen Schaden. Und keine Lasttragende (Seele) trägt die Last einer anderen«. Zu den Legenden über Adam, seine Erschaffung, die Erschaffung Evas, ihr Leben im Paradies, ihr Fall und ihre Vertreibung aus dem Paradies siehe A. Wünsche, H. Speyer, A. Katsch, M. Gaudefroy- Demombynes, A. Th. Khoury in den Literaturhinweisen.

 

& Literatur: A. WÜNSCHE, Schöpfung und Sündenfall des ersten Menschenpaares im jüdischen und moslemischen Sagenkreis, Leipzig 1906; H. SPEYER, Biblische Erzählungen im Qoran, Gräfenhainichen 1931, Neudruck: Hildesheim 1961, 41-83; A. I. KATSH, Judaism in Islam, New York 1954, 26-60; M. GAUDEFROY-DEMOMBYNES, Mahomet, Paris 1957, 314-322; A. TH. KHOURY, Polémique byzantine contre l'Islam, Leiden 1972, 145-153; A. TH. KHOURY, Der Koran. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. I, Gütersloh 1990, 217-244.

A. Th. Khoury

 

5. Kapitel

 

 Der Islam in Nordafrika

 

 Aufgrund der unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Verhältnisse zwischen den Ursprungsländern des Islams und Nordafrika musste sich hier ein spezifisch maghrebinischer Islam entwickeln. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß der Zugang nach Nordafrika von Ägypten aus über den Landweg zahlreiche Risiken barg und der Seeweg ebenfalls nicht unproblematisch war, hat der nordafrikanische Islam eine andere Entwicklung genommen, als der in der übrigen arabischen Welt. Dieser maghrebinische Islam ist gekennzeichnet durch die einheitliche Autorität der malikitischen Rechtsschule einerseits und andererseits durch islamische Sonderformen, die noch im Bereich des sunnitischen Islams und in verschiedenen Häresien zum Ausdruck kommen. An den berühmten Stätten islamischer Gelehrsamkeit wie der Zaituna in Tunis oder den verschiedenen Hochschulen in Fez entstanden theologische Traditionen, die denen der östlichen arabischen Welt an Bedeutung und Ausstrahlung nicht nachstehen. Die tägliche religiöse Praxis unterscheidet sich von der in den weiter östlich gelegenen islamischen Regionen. In einem sehr viel stärkeren Maß als in anderen Teilen der islamischen Welt pflegen die nordafrikanischen Muslime die Heiligenverehrung in der täglichen religiösen Praxis. Heiligen  Männern und Frauen (Marabut) sprechen die Gläubigen besondere übernatürliche Fähigkeiten zu, die unter dem Begriff »Baraka« subsumiert werden können. Diese »Baraka« kann durch ein heiligmäßiges Leben erworben, aber auch von einem Vorfahren geerbt werden. Auf diese Weise können ganze Dynastien von islamischen Heiligen entstehen. »Baraka« verleiht nicht nur religiöse, sondern auch politische Autorität und kann zu wirtschaftlicher Macht führen. Heiligenfamilien boten in Zeiten politischer Anarchie die einzigen Autoritätsstrukturen. Sie waren dann in der Lage, zwischen verfeindeten Stämmen zu vermitteln. In ihnen sind aber zugleich auch die konsequentesten Gegner gegen eine politische und kulturelle Durchdringung mit fremdem Gedankengut, das durch die europäischen Kolonialmächte des vorindustriellen und des industriellen Zeitalters in Nordafrika Einzug hielt, zu sehen.

    Die segmentären Berbergesellschaften Nordafrikas mit ihren stark egalitären Tendenzen waren ausgesprochen anfällig für die Übernahme solcher häretischer islamischer Vorstellungen, in denen das egalitäre Moment des Islams im Vordergrund der Lehre stand. Der Erfolg von islamischen Sondergruppierungen in Nordafrika wie den Ibaditen (s. dort), die noch heute auf der tunesischen Insel Djerba und im algerischen Mzab existieren, ist unter anderem auf diese kulturellen Verhältnisse zurückzuführen. Daneben spielte sicherlich auch die Tatsache eine Rolle, daß diese Sekten eine ideologische Grundlage für die Ablehnung zentralstaatlicher Autorität, wie sie der sunnitische Islam postuliert, boten. Erst die gemeinsame Erfahrung der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Kolonialmächten und die Verbesserungen der Kommunikationswege hat dazu geführt, daß der nordafrikanische Islam in die allgemein islamischen Entwicklungen eingebunden werden konnte. Dennoch stellt er noch heute eine der zahlreichen regionalen Sonderformen des Welt-Islams dar.

 

 

 

Der Islam in Schwarzafrika

 

Die Islamisierung des schwarzen Teils des afrikanischen Kontinents erfolgte von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus. Westafrika und Teile Zentralafrikas lernten den Islam durch die Vermittlung nordafrikanischer Muslime kennen. An der afrikanischen Ostküste siedelten sich Muslime von der Arabischen Halbinsel und aus dem Iran an. Es reisten aber auch indische Muslime an diese Küsten und machten die dort ansässige Bevölkerung mit dem Islam bekannt.

 

 

 

Westafrika

 

Für die Islamisierung Westafrikas, die seit dem 7. Jahrhundert erfolgte, lassen sich die stets gleichen Strukturen feststellen. Geographisch gesehen schreitet sie von Norden nach Süden fort und verlief innerhalb der Gesellschaftsskala von oben nach unten. Die Muslime aus Nordafrika, die an Handelswaren wie Sklaven und Gold interessiert waren, wofür sie vor allem Salz anboten, hatten vor allem Kontakte mit den Königshöfen der Reiche Ghana, Mali oder Songhay. Diese Händler verfügten über Fähigkeiten und Techniken, die hier nicht bekannt waren. Ihre Kenntnisse wurden von den westafrikanischen Herrschern in Anspruch genommen. Muslime erhielten die Funktion des Stadtschreibers, vor allem aber sahen die Herrscher sie als Verantwortliche für die Finanzen ihrer Staaten an. Durch ihr Vorbild machten sie die Angehörigen der Höfe mit den islamischen Dogmen und rituellen Praktiken bekannt. Da die Kultur der Muslime als überlegen angesehen wurde, schlossen sich viele Angehörige der herrschenden Schichten der neuen Religion an. Sie waren in dieser Hinsicht wiederum Vorbild für die übrige Bevölkerung, die nach und nach den Islam annahm. Dies geschah um so leichter, als sich der Islam mit seinem relativ einfachen Dogma recht flexibel in der Akzeptanz von  fremden religiösen Vorstellungen zeigt. Er gestattet die »Islamisierung« zahlreicher autochthoner Vorstellungen. Ahnengeister können dabei zu Djinnen werden und Götter zu Engeln. Zahlreiche vorislamische rituelle Praktiken wurden in den westafrikanischen Islam übernommen und bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts kann man von einer weitgehenden Symbiose zwischen islamischen und traditionell afrikanischen religiösen Vorstellungen sprechen.

    Zu den Pflichten jedes Muslims gehört, daß er einmal in seinem Leben die Wallfahrt (s. dort) nach Mekka unternimmt. Auch westafrikanische Muslime gelangten auf diese Weise in das Zentrum der islamischen Welt und lernten hier einen Islam kennen, der sich von dem in ihrer Heimat praktizierten unterschied und den sie als den wahren, den reinen Islam anerkannten. Nach ihrer Rückkehr bemühten sie sich, diese Form des Islams auch unter ihren westafrikanischen Religionsgenossen zu verbreiten. Wenn dies nicht durch Predigten und gutes Vorbild gelang, griffen sie auch zu den Waffen, um zum wahren Islam zu bekehren. Aus diesen reformatorischen Aktionen, vor allem der Ethnie der Fulbe, entstanden eine Anzahl von islamischen Staaten, die bis zum Beginn der kolonialen Vorherrschaft in den nördlichen Teilen Westafrikas die Vorherrschaft innehatten.

    Doch auch die Kolonialmächte sorgten für eine  Verbreitung des Islams. Für sie stellte er eine der politischen Strukturen dar, die für die koloniale Durchdringung verwendet werden konnten. Aus diesen Überlegungen heraus behinderten sie auf der einen Seite die christliche Mission in ihrer Glaubensverbreitung und sorgten auf der anderen für eine Befriedung vor allem der südlichen Regionen Westafrikas. Diesen Zustand wussten die muslimischen Händler des westafrikanischen Nordens für sich zu nutzen, indem sie ihre Aktivitäten in diese Region ausweiteten. Die Entwicklung, die sich Jahrhunderte zuvor im Norden der Region abgespielt hatte, wiederholte sich nach gleichem Muster. So kam es auch hier zu einer teilweisen Islamisierung der vorhandenen Ethnien. Sie verstärkte sich vor allem im Verlauf des antikolonialen Kampfes. Für viele westafrikanische Nationalisten war das Christentum die Religion der Unterdrücker. Der Islam dagegen wurde als Glaubenssystem der Staaten der »Dritten Welt« angesehen: Zwar wurden die traditionellen religiösen Vorstellungen nicht mehr akzeptiert, das Christentum als äquivalent mit dem Kolonialismus abgelehnt. Folglich blieb nur der Islam als »modernere« Religion, der man sich anschließen konnte. So waren es vor allem nach der Unabhängigkeit der verschiedenen westafrikanischen Staaten vor allem Angehörige der jeweiligen Oberschichten, die sich dem Islam anschlossen. In einer weiteren Phase  der Islamisierung in Afrika spielt die wachsende Bedeutung islamischer internationaler Organisationen eine wichtige Rolle. Diese finanzstarken Einrichtungen mit Sitz in Mekka bemühen sich, durch die Unterstützung von »orthodoxen« islamischen Einrichtungen – wie Schulen und Hochschulen –, diese für eine Vertiefung und Intensivierung von islamischem Gedankengut zu sichern. Da sie zugleich mit einem der finanzstärksten Staaten der Welt, Saudi-Arabien, eng verbunden sind, finden diese Bemühungen auch Unterstützung über politische und diplomatische Kanäle. Es ist ihnen vor allem gelungen, Grundlagen für eine Angleichung des westafrikanischen Islams an gesamtislamische Vorstellungen und Praktiken zu legen.

 

 

 

Ostafrika

 

In Ostafrika blieb die Islamisierung vor allem auf die Küstenregionen beschränkt. Hier hatten sich schon Mitte des 8. Jahrhunderts Kaufleute von der Arabischen Halbinsel angesiedelt, die für eine Verbreitung des Islams sorgten. Intensiviert wurde die Islamisierung an der ostafrikanischen Küste zwei Jahrhunderte später im Rahmen der so genannten Shirazi-Kultur. Iraner, die bei ihren Handelsunternehmungen an die ostafrikanische Küste gelangten, heirateten einheimische Bantu-Frauen, die häufig den Islam annahmen. Nach wenigen Generationen herrschte das Bantu-Element in dieser Bevölkerung vor. Iranische, arabische und afrikanische Kulturelemente verschmolzen nun zu den Vorformen dessen, was in die Literatur als Suaheli-Islam eingegangen ist. Dieser besondere ostafrikanische Islam zeichnet sich durch auffallende Bantu- Elemente im rituellen wie im sozialen Bereich aus. Der Suaheli-Islam blieb zunächst jedoch vor allem auf die Küstensiedlungen beschränkt. Mit dem Aufkommen der portugiesischen Seemacht im 16. und 17. Jahrhundert gerieten diese islamischen Niederlassungen unter schweren Druck nicht nur von Seiten der Portugiesen, sondern auch aus dem Landesinneren. Daher wurde eine weitere Verbreitung und Intensivierung des Islams zunächst unmöglich. In der Mitte des 17. Jahrhunderts begannen die Araber Omans jedoch, die Seeherrschaft der Portugiesen in Frage zu stellen. 1698 besiegten sie die Europäer bei Mombasa und wurden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die entscheidende politische Macht der Region. Ostafrika wurde für die Sultane von Oman wirtschaftlich und politisch so bedeutend, daß sie ihren Regierungssitz nach Sansibar verlegten. Die unter omanischem Einfluss ermöglichte Sicherung der Handelsplätze führte zu weiteren kaufmännischen Aktivitäten, die sich nun auch auf das Landesinnere richteten. Mit den Händlern drang auch der Islam weiter vor. Eine weitere Ausweitung erlebte der Islam im Kolonialzeitalter  durch die Einwanderung von indischen Muslimen einerseits und durch die antikolonialistische Haltung vieler Afrikaner schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts andererseits. Vor allem in Zeiten der Auseinandersetzungen zwischen den Kolonialmächten konnte der Islam immer mehr Anhänger gewinnen. Die Re- Afrikanisierung in vielen Staaten Ostafrikas hat seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem leichten zahlenmäßigen Rückgang der Muslime geführt. Zugleich bedeutete dieser Rückgang jedoch auch eine deutliche Vereinheitlichung unter den verbliebenen Muslimen und damit eine Stärkung des Suaheli-Islams.

  

& Literatur:

Nordafrika J. ABU-NASR, A History of the Maghrib, Cambridge 1975; D. EICHELMAN, Moroccan Islam. Tradition and Society in a Pilgrimage Center, Houston 1976; E. DOUTTÉ, Magie et Religion dans l'Afrique du Nord, Alger 1908; C. GEERTZ, Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien, Frankfurt 1988; E.

GELLNER, The Saints of the Atlas, London 1969; E. WESTERMARCK, Pagan Survivals in Mohammedan Civilisation, London 1933.

Westafrika B. BLANCKMEISTER, Din wa Dawla. Islam, Politik und Ethnizität im Hausaland und Adamawa, Emsdetten 1989; E. BOVILL, The Golden Trade of the Moors, London  1968; P. HEINE, Die westafrikanischen Königreiche Ghana, Mali und Songhay aus der Sicht der arabischen Autoren des Mittelalters, Münster 1973; P. HEINE/R. STIPEK, Islam und Ethnizität, Gelsenkirchen 1982; J. O. HUNWICK U.R. S. O'FAHEY, Arabic Literature of Africa, Bde 1 u. 2, Leiden 1998; R. OßWALD, Die Handelsstädte der Westsahara, Berlin 1986; S. TRIMINGHAM, A History of Islam in West Africa, Oxford 1972; J. WILLIS (ED.), Studies in Westafrican Islamic History, London 1979.

Ostafrika K. HOCK, Gott und Magie im Swahili-Islam, Köln 1987; A. NIMTZ, Islam and Politics in East Africa, Minneapolis 1980; R. POUWELS, Horn and Crescent. Cultural Change and Traditional Islam on the East African Coast, Cambridge 1987; E. RUETE, Leben im Sultanspalast, Frankfurt 1989; R. REUSCH, Der Islam in Ost-Afrika, Leipzig 1930; S. TRIMINGHAM, Islam in East Africa, Oxford 1964.

P. Heine

 

6. Kapitel

 

Aufklärung

 

Die europäische Aufklärung in ihrer philosophisch begründeten Bemühung um Rationalität und die Ablösung religiös bestimmter Lebenshaltung hat in der islamischen Welt nur einen begrenzten Einfluss gehabt. Am stärksten geprägt von den Gedanken Voltaires, Rousseaus oder Montesquieus sind diejenigen Ägypter, die mit der ersten Studienmission 1826 nach Paris kamen. Hier ist vor allem Rifat al-Tahtawi zu nennen, der den Versuch unternahm, vor allem die politischen Implikationen der Aufklärung mit den Vorstellungen des islamischen politischen Denkens zu verbinden. Forderungen der Aufklärung, daß eine Gesellschaft vom Prinzip der Gerechtigkeit geleitet werden soll oder daß der Zweck der Herrschaft die Wohlfahrt der Beherrschten sei, sind durchaus mit islamischen Vorstellungen zu verbinden. Dies gilt vor allem für Rousseaus Konzept vom Gesetzgeber, der in der Lage ist, vernünftige Gesetze zu formulieren, die er aber in einer Form religiöser Symbolik darstellt, damit die Mehrzahl der Menschen sie verstehen und als normativ akzeptieren kann. Hier wurden von Tahtawi Parallelen zum Propheten Muhammad gesehen. Neu waren Vorstellungen wie die, daß das Volk aktiv an der Regierung des Staates beteiligt werden sollte und daß man daher ein allgemeines Erziehungssystem einrichten müsse, vor allem aber, daß Gesetze sich je nach wechselnden historischen und sozialen Gegebenheiten ändern müssten. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen trat Tahtawi für diese Vorstellungen ein, hatte jedoch nur eine begrenzte Wirkung.

    Mehr Wirkung erreichten dagegen Organisationen, die von den Ideen der Aufklärung geprägt waren, wie der der Freimaurer. Logen waren schon im Zusammenhang mit der Expedition Napoleons nach Ägypten, 1798, gegründet worden, in die auch Ägypter aufgenommen wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren sie ein Sammelbecken für die arabischen Modernisten unterschiedlichster Positionen von islamischen Reformern wie al-Afghani oder Muhammad 'Abduh, der auch Mufti von Ägypten war. Außerdem gehörten Schriftsteller und Journalisten wie al-Muwailihi und Ibrahim al-Laqqani, Offiziere wie Latif Salim und Sa'id Nasr bis hin zu Politikern wie Sa'd Zaghlul zu diesen Kreisen. Es ist auch bekannt, daß Anhänger der freimaurerischen Idee nicht ohne Einfluss an den verschiedenen Höfen, so in Kairo oder in Istanbul, waren.

 

& Literatur: A. AL-AZMEH, Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie, Frankfurt 1996; A. HOURANI, Arabic Thought in the Liberal Age, Oxford 1962; J. LANDAU, Prolegomena to a Study of Secret Societies in Modern Egypt, in: Middle Eastern Studies I (1965), 1-52.

P. Heine

 

7. Kapitel

 

Beschneidung

  Ursprung und Bedeutung

 

 

Nach einer weit verbreiteten Ansicht wird neben der Weigerung des Konsums von Schweinefleisch und Alkohol die Beschneidung von männlichen und weiblichen Kindern als typisches Phänomen des Islams angesehen. Weder die Beschneidung von Jungen (khitan) noch die von Mädchen (khafd) werden im Koran als religiöse Pflicht aufgeführt. Beide Praktiken waren jedoch offenbar in vor-islamischer Zeit auf der arabischen Halbinsel gebräuchlich und werden in Verbindung mit dem Schneiden von Nägeln und dem Kürzen der Schnurrbarthaare genannt. In einer Vielzahl von als echt angesehenen Prophetentraditionen (Hadith) werden sie als üblich für die frühen islamischen Gemeinden geschildert. Zahlreiche Gestalten der islamischen Heilsgeschichte werden mit der Praxis der Beschneidung in Verbindung gebracht. So berichtet die islamische wie die biblische Tradition, daß der Patriarch Abraham im Alter von 80 Jahren beschnitten worden sei. Die verschiedenen islamischen Rechtsschulen bewerten die Beschneidung unterschiedlich positiv. Während die Shafi'iten sie für eine religiöse Pflicht halten, sind die Malikiten der Ansicht, daß es sich um »Sunna« handelte, also eine Befolgung des  Vorbilds des Propheten Muhammad.

    Wie in vielen anderen traditionellen Gesellschaften ist auch in der islamischen Welt die Beschneidung ein Übergangsritus, durch den ein Individuum aus einem sozialen Status in einen anderen übertritt. Medizinische Begründungen wie die Vermeidung von Phimose sind moderne Rationalisierungen von sozialen Vorgängen. Initiationsriten sind häufig mit körperlichen Eingriffen wie der Anbringung von Narben, Tatauierungen, Amputationen und anderen körperlichen Veränderungen verbunden. In vielen Fällen geht die Unterrichtung des Betroffenen in bestimmten Praktiken und Fähigkeiten dem Ritual voraus. Die Übergangsriten sind die Voraussetzung für die Aufnahme bestimmter sozialer Aktivitäten und Aufgaben. Daher sind die Initianden trotz der mit dem Initiationsritus verbundenen Schrecken und Schmerzen häufig begierig, sich dem Ritus zu unterziehen.

 

Ritus der Beschneidung

Relativ gut informiert sind wir über die Beschneidung der muslimischen Jungen. Sie findet zwischen dem siebten Tag nach der Geburt und dem 15. Lebensjahr statt. Auf jeden Fall muß sie durchgeführt werden, bevor der Junge das Erwachsenenalter erreicht hat. Da der Ritus mit erheblichen Kosten verbunden ist, wird er häufig für mehrere Kinder gemeinsam durchgeführt, so daß Jungen unterschiedlichen Alters in der gleichen Zeremonie beschnitten werden. Der eigentliche Vorgang besteht darin, daß ein Teil der Vorhaut des Penis abgetrennt wird. Die Operation wird häufig durch einen Barbier durchgeführt. Doch hat sich in neuerer Zeit für diese Aufgabe ein gewisses Spezialistentum entwickelt. Die Beschneidung der Jungen ist mit einem großen Fest verbunden, zu dem Umzüge, Gastmahle und Geschenke für den Initianden gehören. Erst danach wird er als echter Muslim angesehen.

    Während die Beschneidung der Jungen ein öffentliches Ereignis ist, bleibt die Beschneidung der muslimischen Mädchen ein Vorgang innerhalb der Welt der Frauen. Ein weiterer Unterschied zu der Beschneidung von Jungen besteht darin, daß sich hier zahlreiche regionale Unterschiede in den angewendeten Praktiken finden. In der Regel werden die Mädchen später als die Jungen, aber vor dem Erreichen der Pubertät beschnitten. Der eigentliche Eingriff kann aus einem kleinen Einschnitt am oberen Teil der Scheide, aber auch aus einer völligen Entfernung der Klitoris und der Schamlippen bestehen. Häufig ist er mit einer Infibulation verbunden. Die Durchführung dieser Operationen obliegt Hebammen oder alten Frauen. Neuerdings werden sie auch von Krankenschwestern durchgeführt. Die Eingriffe haben nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Beachtung hygienischer Gegebenheiten häufig schwere, ja tödliche Erkrankungen zur Folge. Daher wurde vor allem die radikale Beschneidung der Mädchen in einigen Staaten der islamischen Welt verboten. Dennoch wird sie weiter praktiziert. Frauen, die diese Operationen durchführen, haben im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen in der Öffentlichkeit einen sehr schlechten Ruf. In der Welt der Frauen werden sie dagegen mit ängstlicher Verehrung behandelt. Viel stärker als bei den Jungen ist die Beschneidung von Mädchen mit der Vermittlung von Wissen um Sexualität verbunden. In einigen Regionen der islamischen Welt müssen die Initiandinnen in der Vorbereitung auf die Beschneidung auch bestimmte Tänze erlernen, von denen angenommen wird, daß sie das sexuelle Interesse der Männer erregen. Doch auch bei den Mädchen steht das soziale Moment des Übergangsritus aus einem in einen anderen sozialen Status im Vordergrund. Dabei machen sich in sehr viel stärkerem Maß als bei den Jungen bei der Beschneidung der Mädchen vor-islamische Vorstellungen bemerkbar. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß z.B. in Ägypten diese Praktiken nicht nur bei Muslimen, sondern auch bei Kopten üblich sind. In jüngerer Zeit hat es um die Beschneidung von Mädchen heftige Auseinandersetzungen gegeben, da sie von Reformern als mit der Menschenwürde der Frau nicht vereinbar angesehen wird.

 

Literatur: B. BOEHRINGER-AHDALLA, Frauenkultur im Sudan, Frankfurt/M. 1987; H. JAUSSEN, Coutumes des Arabes au pays de Moab, Paris 1948; C. KIEFFER, A propos de la circoncision à Caboul et dans le Logar, in: Festschrift für W. Eilers, Wiesbaden 1967, 191-201; H. MASSÉ, Croyances et coutumes persanes, Paris 1938; Y. EL MASRY, Die Tragödie der Frau im arabischen Orient, München 1963; O. MEINARDUS, Mythological, Historical and Sociological Aspects of the Practice of Female Circumcision among the Egyptians, in: Acta Ethnographica 16 (1967), 387-397.

P. Heine

 

8. Kapitel

 

Barmherzigkeit

 

 Außer dem Islam gibt es keine Weltreligion, die sich auf eine Heilige Schrift stützen kann, in der bis auf eine Ausnahme alle Kapitel durchweg mit dem Lobpreis auf Gott, den Barmherzigen, eingeleitet werden. Jede Sure des Korans – abgesehen von der neunten – beginnt mit der sogenannten Basmala: »Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen.« Damit begegnet uns im Koran diese Gottesanrede am häufigsten. Allein schon diese Tatsache verdient, beachtet und gewürdigt zu werden.

 

Gott, der Erbarmer (ar-rahman) und der Barmherzige (ar-rahim)

 

»Gott gehören die schönsten Namen«, betont der Koran mehrfach. Zu ihnen zählen die Epitheta »der Erbarmer« (ar-rahman) und »der Barmherzige« (ar-rahim).

 

 

Herkunft und Bedeutung von rahman und rahim

 

Unter den von der Wortwurzel rhm abgeleiteten Verbal- und Nominalformen haben die beiden Nomina rahman und rahim »durch den Islam eine zentrale Bedeutung« erhalten (A. Falaturi). Es scheint so zu sein, daß Muhammad die wohl aus dem südarabischen Raum stammende Bezeichnung ar-rahman eine Zeitlang als Eigenname, gleichbedeutend mit Allah (Gott) gebrauchte – was seine mekkanischen Landsleute bekanntlich als Neuerung verwarfen –, und mit rahim zu der bekannten Formel der Basmala verband.

    Während ar-rahman, der Erbarmer, nur von Gott ausgesagt wird, kann ar-rahim, der Barmherzige, auch von Menschen prädiziert werden. Ob eine inhaltliche Differenz zwischen rahman und rahim besteht, ist umstritten. Um ihre Kombination nicht als Dublette erscheinen zu lassen, mühen sich die muslimischen Kommentatoren, beiden je eigene Sinngehalte zu geben. Zusammenfassend läßt sich folgende Inhaltsbestimmung ausmachen: Der Erbarmer ist »der Sich- Erbarmende, von dem die Auswirkungen der Barmherzigkeit ausgehen, und zwar in der konkreten Tat, der die Gnaden und das Gute breit austeilt« (A. Th. Khoury). Barmherzig »bedeutet einen beständigen Habitus« und weist hin »auf den Ursprung der aktuellen Barmherzigkeit in Gott, d.h. auf seine beständige  Bereitschaft, sich zu erbarmen« (A. Th. Khoury).

 

 

Barmherzigkeit als oberstes göttliches Handlungsprinzip

 

Dass Gott barmherzig ist, bestätigt der Koran immer wieder, ja es heißt sogar, er habe sich zur Barmherzigkeit verpflichtet: »Sprich: Wem gehört, was in den Himmeln und auf der Erde ist? Sprich: (Es gehört) Gott. Vorgeschrieben hat er sich selbst die Barmherzigkeit. Er wird euch zum Tag der Auferstehung versammeln, an dem kein Zweifel möglich ist ...«. Ferner: »Und wenn diejenigen, die an unsere Zeichen glauben, zu dir kommen, so sprich: Friede über euch! Euer Herr hat sich selbst die Barmherzigkeit vorgeschrieben: Wenn nun einer von euch aus Unwissenheit Böses tut, aber danach umkehrt und Besserung zeigt, so ist Er voller Vergebung und barmherzig«. Beide Koranstellen sprechen von der Barmherzigkeit Gottes als einer Selbstauferlegten Verpflichtung.

    Islamische Gelehrte sehen in diesen Koranbelegen ihre Überzeugung begründet, »daß die Barmherzigkeit und nur diese in einmaliger Weise das oberste göttliche Handlungsprinzip darstellt« (A. Falaturi).

 

 

Zeichen der Barmherzigkeit Gottes

 

»Schau auf die Spuren der Barmherzigkeit Gottes«, fordert Koran 30,50; d.h., wer die Wirklichkeit recht zu deuten vermag, wird der Barmherzigkeit Gottes auf die Spur kommen, sie zeigt sich nämlich allenthalben: in der Natur und ihren Erscheinungen, in der Geschichte seines Handelns mit den Menschen, in der Propheten- und Offenbarungsgeschichte.

    »Schau auf die Spuren der Barmherzigkeit Gottes, wie Er die Erde nach ihrem Absterben wieder belebt. Ein solcher (Gott) kann wahrlich (auch) die Toten wieder lebendig machen. Und Er hat die Macht zu allen Dingen«. Der ständige Wechsel in der Natur und die sich erneuernde Fruchtbarkeit der Erde werden als Barmherzigkeit Gottes verstanden, die allen Menschen gilt, ob sie nun an ihn glauben oder nicht. »Und er ist es, der die Winde als frohe Kunde seiner Barmherzigkeit vorausschickt. Und Wir lassen vom Himmel ein reines Wasser herabkommen, um damit eine abgestorbene Ortschaft zu beleben und um es vielen von dem, was Wir erschaffen haben, Vieh und Menschen, zu trinken zu geben. Und Wir haben es unter ihnen auf verschiedene Weise dargestellt, damit sie es bedenken ...«. Hinter der Vielfalt der Naturphänomene, so der Koran, wird Gottes Barmherzigkeit sichtbar: »Die  Barmherzigkeit Gottes ist dem Rechtschaffenen nahe. Und Er ist es, der die Winde als frohe Kunde seiner Barmherzigkeit vorausschickt. Wenn sie dann eine schwere Bewölkung herbeitragen, treiben Wir sie zu einem abgestorbenen Land, senden dadurch das Wasser hernieder und bringen dadurch allerlei Früchte hervor. So bringen Wir (auch) die Toten hervor, auf daß ihr es bedenket. Und das gute Land bringt seine Pflanzen mit Erlaubnis seines Herrn hervor. Und das (Land), das schlecht ist, bringt nur mühsam etwas hervor. So legen Wir die Zeichen auf verschiedene Weise dar für Leute, die dankbar sind«. Gottes Schöpfung ist in ihrer Vielgestaltigkeit ein deutliches Zeichen für seine uneingeschränkte Barmherzigkeit, die »alle Dinge« umfasst: »Und Er ist es, der den Regen herabkommen läßt, nachdem sie (seine Diener) die Hoffnung aufgegeben haben, und der seine Barmherzigkeit ausbreitet. Und Er ist der Freund und des Lobes würdig«.

    Nicht nur an seiner Schöpfung kann Gottes Barmherzigkeit abgelesen werden, von ihr kündet auch die ganze Geschichte seines Handelns an und mit den Menschen, was sich besonders deutlich innerhalb der Prophetengeschichte zeigt: »Und Wir ließen Mose das Buch zukommen, nachdem Wir die früheren Generationen haben verderben lassen, als einsichtbringende Zeichen für die Menschen und als Rechtleitung und Barmherzigkeit, auf daß sie es bedenken«. Die Thora erweist sich als Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit, sie hat eine Vorbildfunktion für den Koran: Ihm »ging das Buch des Mose als Vorbild und Barmherzigkeit voraus«. Auch Jesus, der Verkünder des Evangeliums, wird als ein »Zeichen für die Menschen« dargestellt. Bei der Ankündigung seiner Geburt heißt es: »Wir wollen ihn zu einem Zeichen für die Menschen und zu einer Barmherzigkeit von Uns machen«. In besonderer, weil in abschließend-letztgültiger Weise, zeigt sich Gottes Barmherzigkeit innerhalb der Prophetengeschichte in ihrer Erfüllung in Muhammad, dem Verkünder des Islams: »Und Wir haben dich nur deshalb (mit der Offenbarung) gesandt, um den Menschen in aller Welt Barmherzigkeit zu erweisen«. Und das Heilige Buch der Muslime, der Koran, ist das fortwährend präsentische Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit: Er ist »eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Gläubigen«, er bringt ihnen »Heilung und Barmherzigkeit«. So darf die ganze Propheten- und Offenbarungsgeschichte als je neues göttliches Angebot der Rechtleitung und Barmherzigkeit angesehen werden, und zwar nicht primär als Korrektur der strafenden  Gerechtigkeit Gottes, sondern als die von Gott selbst »vollzogene Wohltat an das ganze Menschengeschlecht« (J. Bouman).

 

 

 

Der Mensch vor dem Angebot der göttlichen Barmherzigkeit

 

Das generelle Angebot der göttlichen Barmherzigkeit, wie sie sich in der Schöpfung, in der Propheten- und Offenbarungsgeschichte zeigt, fordert die Antwort des Menschen heraus.

 

 

 

Gottes Rechtleitung

 

Insbesondere im Koran selbst, in dem die von Gott ausgehende Initiative in ihrer höchsten Vollendung als Belehrung und Rechtleitung zum Ausdruck kommt, kann der gläubige Mensch jenen Handlungsmaßstab finden, der ein der Barmherzigkeit Gottes entsprechendes menschliches Verhalten nach sich zieht. Denn: »Gott sagt die Wahrheit, und Er führt den (rechten) Weg«. Er selbst ist also der sicherste Garant für die beste Rechtleitung der Gläubigen. Deswegen sollen sie sich bemühen, den Koranischen Vorschriften entsprechend zu leben. Kernstück dieser Vorschriften sind die religiösen Pflichten, die auch als Hauptstützen, Pfeiler oder Säulen des Islams bezeichnet werden.

 

 

 

Gottes Vergebungsbereitschaft

 

Gottes Barmherzigkeit zeigt sich nicht nur in seiner Rechtleitung des Menschen, sondern auch in seiner Vergebungsbereitschaft: Gott vergibt, wem er will, so sagt der Koran immer wieder. Vorbedingung dafür ist der Glaube und die Nachfolge des Propheten: »Sprich: Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir, so wird Gott euch lieben und euch eure Sünden vergeben. Und Gott ist voller Vergebung und barmherzig«. Unter diesen Umständen erlangt derjenige, der gesündigt hat, durch Reue und Umkehr Vergebung seiner Schuld: »Er ist es, der die Umkehr von seinen Dienern annimmt und die Missetaten verzeiht. Und Er weiß, was ihr tut«. Deswegen ruft der Koran die Gläubigen zur Reue und Umkehr auf: »Bekehrt euch allesamt zu Gott, ihr Gläubigen, auf daß es euch wohl ergehe«. Denn durch Reue und Umkehr lässt Gott sich versöhnen.

 

 

 

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

 

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind nicht voneinander zu trennen. Sie gehören eng zusammen. Bei aller Barmherzigkeit, die Gott den Menschen gegenüber walten lässt, ist und bleibt er der gerechte Richter am Ende der Zeit. Jener Tag, so sagt der Koran, wird ein »Tag der Abrechnung« für alle Menschen sein.

    Richter ist Gott allein. Bei aller Barmherzigkeit ist er ein gerechter Richter: Niemandem wird Unrecht getan, denn »Gott weiß über alle Dinge Bescheid«. An jenem Tag, »an dem ihr zu Gott zurückgebracht werdet«, wird »jeder Seele voll zurückerstattet, was sie erworben hat. Und ihnen wird nicht Unrecht getan«.

 

 

 

Barmherzigkeit und Liebe

 

Auch der Koran weiß um die Liebe Gottes zu den Menschen: Gott liebt die Gläubigen, die Gehorsamen, die, die das Gute tun. Auch die, die sich bekehren, die auf ihn vertrauen und auf seinem Wege kämpfen, sind von Gottes Liebe umfangen. Allerdings ist seine Liebe zu den Menschen stets an bestimmte Bedingungen geknüpft: Bedingungen des Glaubens und Vertrauens zählen ebenso dazu wie Bedingungen des

rechten Handelns, wie es der Koran vorschreibt.

    Daraus ergibt sich, daß Gott diejenigen nicht liebt, die seine Vorschriften überschreiten. Nur denen, »die glauben und die guten Werke tun, wird der Erbarmer Liebe bereiten«. Glaube bzw. Unglaube und die daraus resultierende menschliche Handlungsweise sind für das endgültige Schicksal des Menschen entscheidend: Wer glaubt und gute Werke vollbringt, darf auf das Paradies hoffen; wer nicht glaubt und dessen Taten böse sind, wird in die Hölle eingehen. Deswegen ist es wichtig, bei Versagen Gott immer wieder um Vergebung zu bitten, um dann erneut seine Liebe erfahren zu können: »Und bittet euren Herrn um Vergebung, und dann wendet euch Ihm zu. Mein Herr ist barmherzig und liebevoll«.

 

 

 

Barmherzigkeit, Vergebung und Liebe vor dem Anspruch der Gerechtigkeit

 

 

Wenn auch islamischerseits gern darauf verwiesen wird, daß die Barmherzigkeit das oberste göttliche Handlungsprinzip ist, so ist andererseits doch auch festzustellen, daß Gottes Barmherzigkeit, seine Vergebungsbereitschaft und Liebe Grenzen haben können. Barmherzigkeit, Vergebung und Liebe werden nur denen gewährt, die an Gott glauben, die die von ihm im Koran vorgeschriebenen Werke tun und die  ihn bei Vergehen um Verzeihung bitten. Johan Bouman folgert zunächst daraus, daß diese »konditionelle Entfaltung bedeutet, daß sinngemäß diese drei Begriffe nur innerhalb der göttlichen Gerechtigkeit fungieren.« Weil Gott ein gerechter Richter ist, fällt er stets ein gerechtes Urteil: Er belohnt das Gute und bestraft das Böse. Deswegen bleibt für J. Bouman das Hauptdogma »die strikte dichotomische Gerechtigkeit, die der Ausübung der Barmherzigkeit, Vergebung und Liebe Grenzen setzt«. Doch ist damit - wie er selbst sagt – noch nicht das letzte Wort gesprochen. Denn Gott kann in seiner Barmherzigkeit kraft eigener souveräner und freier Verfügung »auch ganz anders entscheiden«. Er ist nicht zwangsläufig gebunden, das Gute zu belohnen und das Böse zu bestrafen. Deswegen unterscheidet Maulana Muhammad Ali zwischen Gott als Richter und als Herrn: »Der wesentliche Unterschied zwischen einem Richter und einem Herrn besteht darin, daß der eine verpflichtet ist, gerecht zu handeln und den Übeltäter für alles Böse zu bestrafen. Der Herr hingegen kann nach freiem Ermessen handeln. Er straft entweder den Übeltäter, oder vergibt ihm sogar seine größten Missetaten«, abgesehen vom Unglauben in seinen verschiedenen Schattierungen, so müsste man hinzufügen. So kann also Gottes »souveräne Willensentscheidung mit der Ausübung der Gerechtigkeit komplimentiert werden«, wie aus Koran  29,16-27 herauszulesen ist. Hier wird nicht nur gesagt, daß Gott bestraft, wen er will, und sich erbarmt, wessen er will, sondern auch, daß diejenigen, die nicht an die Zeichen Gottes und das Gericht glauben, keine Barmherzigkeit erwarten dürfen. »Beide Möglichkeiten stehen einander komplementär gegenüber. Auf der einen Seite die uneingeschränkte Verkündigung der numinosen Willensentscheidung, fast immer als Teilstück der Verkündigung seiner Allmacht in den Himmeln und auf Erden, als komplementärer Gegenpol die Strukturierung dieser Willensentscheidung mit der Gerechtigkeit. Die sich aus diesem Sachverhalt anbietende Schlussfolgerung kann nur sein, daß auch die strikte dichotomische Vollstreckung der Gerechtigkeit als ein souveränes, numinoses Handeln Gottes verstanden werden soll« (J. Bouman).

 

& Literatur: D. RAHBAR, God of Justice, Leiden 1960; A. FALATURI, Der Islam – Religion der Rahma, der Barmherzigkeit, in: A. FALATURI U.A. (HRSG.), Universale Vaterschaft Gottes, Begegnung der Religionen (Veröffentlichungen der Stiftung Oratio Dominica: Schriftreihe zur großen Ökumene, Bd. 14), Freiburg/Basel/Wien 1987, 67-87; J. BOUMAN, Gott und Mensch im Koran. Eine Strukturform religiöser Anthropologie anhand des Beispiels Allah und Muhammad (Impulse der Forschung, Bd. 22), Darmstadt 1977; L. HAGEMANN.