Die Heiligen Schriften aus China

in den ältesten Überlieferungen

 

Gesammelt und niedergeschrieben

von

Georg Goetiaris

 

 

Der Gebrauch des Buchs der Wandlung

 

Das Weisheitsbuch

 

        Das Buch der Wandlung, auch als das I. Ging bezeichnet, besteht im Grunde aus zwei eigene Bücher, welche zusammen zwar ein Ganzes ergeben, für uns aber nur der weit wichtigere Teil, das zweite Buch notwendig erscheint. Es geht uns hierbei nicht um die Orakel, welche im ersten Buch behandelt werden und ein völlig anderes Kulturverständnis voraussetzen, nein, es geht uns um die Quintessens der wahren Lehre und dazu gehört das Buch der Weisheit.

Laotse sah dieses Buch und wurde dadurch angeregt zu einigen seiner tiefsten Aphorismen. Ja seine ganze Gedankenwelt ist von den Lehren des Buchs durchdrungen. Kungtse sah das Buch der Wandlungen und gab sich dem Nachdenken darüber hin. Er schrieb wohl einige Erklärungen dazu auf und überlieferte andere in mündlicher Lehre seinen Schülern. Dieses von Kungtse herausgegebene und kommentierte Buch der Wandlungen ist es, das auf unsere Zeit gekommen ist.

    Fragen wir nach den Grundanschauungen, die einheitlich das Buch durchdringen, so können wir uns auf ganz wenige, aber große Gedanken beschränken.

    Der Grundgedanke des Ganzen ist der Gedanke der Wandlung. In den Gesprächen1 wird einmal erzählt, wie der Meister Kung an einem Fluss stand und sprach: »So fließt alles dahin wie dieser Fluss, ohne Aufhalten, Tag und Nacht. « Damit ist der Gedanke der Wandlung ausgesprochen. Der Blick richtet sich für den, der die Wandlung erkannt hat, nicht mehr auf die Vorüberfließenden Einzeldinge, sondern auf das unwandelbare ewige Gesetz, das in allem Wandel  wirkt. Dieses Gesetz ist der SINN des Laotse, der Lauf, das Eine in allem Vielen. Um sich zu verwirklichen, bedarf es einer Entscheidung, einer Setzung. Diese Grundsetzung ist der große Uranfang alles dessen, was ist: Tai Gi, eigentlich: der Firstbalken. Die spätere Philosophie hat sich mit diesem Uranfang viel beschäftigt. Man hat den Wu Gi, den Ururanfang, als Kreis gezeichnet, und Tai Gi war dann der in Licht und Dunkel, Yin und Yang, geteilte Kreis, der auch in Indien und Europa eine Rolle spielte: ☯. Aber die Spekulationen gnostisch-dualistischer Art sind dem Urgedanken des I Ging fremd. Diese Setzung ist für ihn einfach der Firstbalken, die Linie. Mit dieser Linie, die an sich eins ist, kommt eine Zweiheit in die Welt. Zugleich mit ihr ist oben und unten, rechts und links, vorn und hinten – kurz die Welt der Gegensätze gesetzt.

    Diese Gegensätze sind bekannt geworden unter dem Namen Yin und Yang und haben namentlich in den Wendezeiten der Tsin- und Handynastie in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung, als es eine ganze Schule der Yin-Yang-Lehre gab, viel Aufsehen erregt. Damals wurde das Buch der Wandlungen vielfach als Zauberbuch verwendet, und tausend Dinge wurden in das Buch hineingeheimnisst, von denen es ursprünglich nichts weiß. Natürlich hat diese Lehre vom Yin und Yang, vom Weiblichen und Männlichen  als Urprinzipien, auch in der fremden Wissenschaft über China Aufsehen erregt. Man vermutete hier nach bewährten Mustern phallische Ursymbole und was damit zusammenhängt. Zur großen Enttäuschung solcher Entdecker muss gesagt werden, daß in dem Ursinn der Worte Yin und Yang nichts liegt, was darauf hinweist. Yin ist in seiner Urbedeutung das Wolkige, Trübe; Yang bedeutet eigentlich: in der Sonne wehende Banner, also etwas Beleuchtetes, Helles. Übertragen wurden die beiden Begriffe auf die erleuchtete und die dunkle (d.h. südliche und nördliche) Seite eines Berges oder Flusses (wo aber die Südseite im Blick auf den Fluss dunkel, d.h. Yin, und die das Licht reflektierende Nordseite hell, d.h. Yang, ist). Von hier aus wurden die Ausdrücke dann auf das Buch der Wandlungen übertragen auf die beiden wechselnden Grundzustände des offenbaren Seins. Es verdient übrigens bemerkt zu werden, daß sie im eigentlichen Text des Buchs in diesem Sinn gar nicht vorkommen, ebenso wenig in den ältesten Kommentaren, sondern erst in der großen Abhandlung, die ja in manchen ihrer Teile schon unter taoistischem Einfluss steht. Im Kommentar zur Entscheidung ist stattdessen von Festem und Weichem die Rede.

    Wie es sich aber auch im Übrigen damit verhalten mag, soviel steht fest, daß aus dem Wandel und Übergang dieser Kräfte das Dasein sich aufbaut, wobei  denn der Wandel teils ein dauernder Umschlag von einem ins andere ist, teils ein kreisförmig geschlossener Ablauf von in sich zusammenhängenden Ereigniskomplexen wie Tag und Nacht, Sommer und Winter. Dieser Wandel aber ist nicht sinnlos, sonst könnte es kein Wissen davon geben, sondern eben dem durchgehenden Gesetz, dem SINN (Tao), unterworfen.

    Der zweite Grundgedanke des Buchs der Wandlungen ist seine Ideenlehre. Die acht Zeichen stellen Bilder vor – nicht sowohl von Gegenständen als von Wandlungszuständen. Damit verbindet sich die Auffassung, die sich in Laotses Lehren ebenso wie in denen Kungtses ausspricht, daß alles, was in der Sichtbarkeit geschieht, die Auswirkung eines »Bildes«, einer Idee im Unsichtbaren ist. Insofern ist alles irdische Geschehen nur gleichsam eine Nachbildung eines übersinnlichen Geschehens, die auch, was den zeitlichen Verlauf anlangt, später als jenes übersinnliche Geschehen sich ereignet. Diese Ideen sind den Heiligen und Weisen, die in Kontakt stehen mit jenen höheren Sphären, durch unmittelbare Intuition zugänglich. Dadurch sind diese Heiligen in den Stand gesetzt, in das Weltgeschehen bestimmend einzugreifen, und der Mensch bildet so mit dem Himmel, der übersinnlichen Welt der Ideen, und der Erde, der körperlichen Welt der Sichtbarkeit, eine Dreiheit der Urmächte. In doppeltem Sinn findet nun diese Ideenlehre  ihre Anwendung. Das Buch der Wandlungen zeigt die Bilder des Geschehens und mit ihnen das Werden der Zustände in statu nascendi. Indem man nun durch seine Hilfe die Keime erkennt, lernt man die Zukunft voraussehen, ebenso wie man die Vergangenheit verstehen lernt. So dienen die Bilder, die den Zeichen zugrunde liegen, eben dazu, Vorbilder zu sein für das zeitgemäße Handeln in den durch sie angedeuteten Situationen. Aber nicht nur die Anpassung an den Naturverlauf wird auf diese Weise ermöglicht, sondern es wird auch der sehr interessante Versuch gemacht, die Schaffung aller Kultureinrichtungen der Menschheit auf solche Ideen und Bilder zurückzuführen. Ganz einerlei, wie man sich zu der Durchführung im Einzelnen stellt, dem Grundgedanken nach ist hier eine Wahrheit getroffen.

    Außer den Bildern kommen als dritter Hauptbestandteil noch die Urteile in Betracht. Hierdurch bekommen die Bilder gleichsam Worte. Die Urteile deuten an, ob eine Handlung Heil oder Unheil, Reue oder Beschämung mit sich bringt. Damit setzen sie den Menschen in die Lage, sich frei zu entscheiden, eine gegebene Richtung, die sich aus der Zeitsituation an sich ergeben würde, eventuell zu verlassen, wenn sie unheilvoll ist, und auf diese Weise sich vom Zwang der Ereignisse unabhängig zu machen. Indem das  Buch der Wandlungen durch seine Urteile und seine Erklärungen, die sich seit Kungtse daran angeschlossen haben, dem Leser den reifsten Schatz chinesischer Lebensweisheit darbietet, gibt es eine umfassende Übersicht über die Gestaltungen des Lebens und setzt ihn in den Stand, an der Hand dieser Übersicht sein Leben organisch und souverän zu gestalten, so daß es in Einklang kommt mit dem letzten SINN, der allem, was ist, zugrunde liegt.

 

 

 

 

Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

 

DSCHUNG YUNG

Maß und Mitte

* * *

 

     Das Kapitel ist eines der wertvollsten Erzeugnisse der chinesischen philosophischen Literatur als Zusammenfassung der philosophischen Grundlagen des Konfuzianismus. Teil II, der eine Unterredung des Kung Dsï mit Herzog Ai von Lu wiedergibt, ist offenbar später als der erste. Er gehört zu dem Kreis der Schriften, die sich an die berühmten drei Audienzen des Konfuzius bei seinem Landesfürsten anschließen und sozusagen das politische Testament des Meisters darlegen.

 

 

Die Grundlagen

 

Was der Himmel (dem Menschen) bestimmt hat, ist sein Wesen. Was dieses Wesen (zum Rechten) leitet, ist der Weg. Was den Weg ausbildet, ist die Erziehung.

    Der Weg darf nicht einen Augenblick verlassen werden. Dürfte er verlassen werden, so wäre es nicht der Weg.

    Darum ist der Edle vorsichtig gegenüber dem, das er nicht sieht, und besorgt gegenüber dem, das er  nicht hört.

    Es gibt nichts Offenbareres als das Geheime, es gibt nichts Deutlicheres als das Allerverborgenste; darum ist der Edle vorsichtig in dem, was er allein für sich ist.

    Der Zustand, da Hoffnung und Zorn, Trauer und Freude sich noch nicht regen, heißt die Mitte. Der Zustand, da sie sich äußern, aber in allem den rechten Rhythmus treffen, heißt Harmonie. Die Mitte ist die große Wurzel aller Wesen auf Erden, die Harmonie ist der zum Ziel führende Weg auf Erden.

    Bewirke Harmonie der Mitte, und Himmel und Erde kommen an ihren rechten Platz, und alle Dinge gedeihen.

 

 

 

 

Die Ausführungen

 

1. Maß und Mitte als Ziel

 

Dschung Ni sprach: Der Edle hält sich an Maß und Mitte, der Gemeine widerstrebt Maß und Mitte. Maß und Mitte des Edlen bestehen darin, daß er ein Edler ist und allezeit in der Mitte weilt. Die Mittelmäßigkeit des Gemeinen besteht darin, daß er ein Gemeiner ist und vor nichts zurückscheut.

    Der Meister sprach: Maß und Mitte sind das Höchste, aber selten sind die Menschen, die lange dabei verweilen können.

    Der Meister sprach: Warum der Weg nicht begangen wird, das weiß ich: Die Klugen gehen (mit ihren Meinungen) darüber hinaus, und die Törichten erreichen ihn nicht. Warum der Weg nicht erkannt wird, das weiß ich: Die Tüchtigen gehen (in ihren Handlungen) darüber hinaus, und die Untüchtigen erreichen ihn nicht. Unter den Menschen gibt es keinen, der nicht isst und trinkt, aber selten sind die, die den Geschmack unterscheiden können.

    Der Meister sprach: Ach, daß der Weg nicht begangen wird!

 

 

 

2. Wahre Weisheit

 

Der Meister sprach: Schun war doch ein großer Weiser! Schun liebte es, zu fragen, und liebte es, dem Sinn einfacher Reden nachzugehen. Er deckte das Schlechte (der Menschen voll Rücksicht) zu und verbreitete das Gute. Er fasste die beiden Enden einer Sache an und handelte den Menschen gegenüber der Mitte entsprechend. Das ist es, warum er der Schun war!

    Der Meister sprach: Die Menschen sagen alle: »Ich weiß. « Aber sie stürzen blindlings vorwärts und verwickeln sich in Netze und Stricke, in Fallen und Gruben, und keiner ist, der sie zu meiden wüsste. Die Menschen sagen alle: »Ich weiß. « Aber wenn sie Maß und Mitte erwählt haben, so können sie nicht einen Monat lang daran festhalten.

    Der Meister sprach: Hui war als Mensch so, daß er Maß und Mitte wählte; und wenn er ein Gutes erlangt hatte, so hielt er es mit beiden Händen in seinem Busen fest und verlor es nie wieder.

 

 

 

3. Wahre Stärke

 

Dsï Lu fragte, was Stärke sei. Der Meister sprach: Meinst du des Südens Stärke oder des Nordens Stärke oder aber die Stärke an sich? Weitherzig sein und mild im Lehren und nicht vergelten denen, die hässlich handeln: das ist die Stärke des Südens. Und ein Edler verweilt dabei. In Stahl und Leder schlafen und sterben, ohne zu murren: das ist die Stärke des Nordens. Und ein Starker verweilt dabei.

    Aber der Edle ist mild, und doch treibt er nicht ab:

    Wie mächtig ist er doch in seiner Stärke! Er steht in der Mitte und beugt sich nach keiner Seite: Wie mächtig ist er doch in seiner Stärke! Wenn das Land auf rechtem Wege ist, bleibt er derselbe, der er war, als er noch nicht Erfolg hatte: Wie mächtig ist er doch in seiner Stärke! Wenn das Land auf falschem Wege ist, so ändert er sich nicht, ob er auch sterben müsste: Wie mächtig ist er doch in seiner Stärke!

 

 

 

4. Der Weg als offenbares Geheimnis

 

Der Meister sprach: Geheime Künste erforschen und Wunder wirken, daß die Nachwelt etwas zu erzählen hat: das mache ich nicht.

    Der Edle ehrt den Weg und wandelt ihn. Auf halber Straße stehen bleiben: das mache ich nicht.

    Der Edle hält sich an Maß und Mitte. Sich vor der Welt verbergen und unerkannt bleiben, ohne es zu bedauern: das kann nur der Heilige.

    Der Weg des Edlen ist ausgebreitet (vor aller Augen) und doch geheimnisvoll. Die Torheit eines gewöhnlichen Mannes und Weibes kann ihn erkennen; aber er reicht in Weiten, die auch der Heilige nicht alle erkennt. Die schwachen Kräfte eines gewöhnlichen Mannes und Weibes reichen aus, ihn zu gehen; aber er reicht in Weiten, die auch der Heilige nicht alle erreichen kann.

    Bei aller Größe des Himmels und der Erde haben die Menschen doch noch manches an ihnen auszusetzen. Darum: Wenn der Edle von Größe redet, meint er eine solche, die nichts auf Erden fassen kann; wenn er von Kleinheit redet, meint er eine solche, die nichts auf Erden zerstückeln kann. In den Liedern heißt es:

 »Der Falke fliegt zum Himmel auf,

die Fische tauchen tief zum Grund.«

 Damit ist gemeint, daß man den Weg in allen Höhen und Tiefen erforschen muss.

    Der Weg des Edlen nimmt seinen Anfang bei den Angelegenheiten des gewöhnlichen Mannes und Weibes; aber er reicht in Weiten, da er Himmel und Erde durchdringt.

 

  

 

5. Die goldene Regel

 

Der Meister sprach: Der Weg ist nicht ferne vom Menschen. Wenn die Menschen den Weg vom Menschen entfernen, so kann man das nicht den Weg nennen. In den Liedern heißt es Guo Fong:

 »Beilstiel hacken, Beilstiel hacken,

ist das Muster doch nicht fern. «

 Aber wenn man auch einen Beilstiel in der Hand hält, nach dem man den neuen Beilstiel zurechthacken kann, so muss man doch immer wieder nach ihm hinsehen und ihn betrachten; so ist es doch noch fern zu nennen.

    Darum ordnet der Edle den Menschen durch den Menschen, er verändert ihn nicht, sondern bessert ihn nur.

    Gewissenhaftigkeit und Mitgefühl [Bewusstsein des Zentrums und der Gleichartigkeit der andern mit dem Selbst] lassen dich nicht weit vom Weg abirren. Was du nicht liebst, wenn es dir selbst angetan wird, das tue du keinem andern Menschen an.

    Zum Weg des Edlen gehören aber noch vier weitere Dinge, von denen ich auch nicht eines schon kann: So meinem Vater dienen, wie ich es von meinem Sohn  erwarten würde, kann ich noch nicht. So meinem Fürsten dienen, wie ich es von meinem Beamten erwarten würde, kann ich noch nicht. So meinem älteren Bruder dienen, wie ich es von meinem jüngeren Bruder erwarten würde, kann ich noch nicht. So meinem Freund gegenüber zuerst handeln, wie ich es von ihm erwarte, kann ich noch nicht.

    Aber wenn ich in der Übung der ganz gewöhnlichen Tugenden oder in der Achtung auf die ganz gewöhnlichen Reden Gebrechen habe, so wage ich nicht, mich nicht anzustrengen. Wenn ich ein Übriges tue, so wage ich nicht, es zu betonen. Die Worte müssen auf die Taten blicken, die Taten müssen auf die Worte blicken.

    Wie sollte der Edle nicht unbedingt aufrichtig sein!

 

 

 

6. Der Edle und das Schicksal

 

Der Edle richtet sich nach seiner Stellung bei allem, was er tut, und wünscht sich nichts außerhalb davon. Wenn er sich in Reichtum und Ehren sieht, so handelt er, wie es in Reichtum und Ehren sich geziemt. Wenn er sich in Armut und Niedrigkeit sieht, so handelt er, wie es in Armut und Niedrigkeit sich geziemt. Wenn er sich unter Barbaren sieht, so handelt er, wie es unter Barbaren sich geziemt. Wenn er sich in Leid und Schwierigkeiten sieht, so handelt er, wie es in Leid und Schwierigkeiten sich geziemt. Der Edle kommt in keine Lage, in der er sich nicht selber findet. In hoher Stellung unterdrückt er nicht die Unteren, in niederer Stellung kriecht er nicht vor den Oberen.

    Er macht sich selber recht und verlangt nichts von den andern Menschen; so bleibt er frei von Groll. Nach oben grollt er nicht dem Himmel, nach unten zürnt er nicht den Menschen.

    So weilt der Edle in Gelassenheit und nimmt sein Schicksal gefasst entgegen. Der Gemeine aber übt List und Tücken, um ein unverdientes Glück zu erjagen.

    Der Meister sprach: Der Schütze hat eines mit dem Edlen gemein: Wenn er das Ziel verfehlt hat, so wendet er sich um und sucht den Fehler bei sich selbst.

 

 

 

7. Der Anfang des Wegs

 

Der Weg des Edlen ist gleich einer weiten Reise: Man muss in der Nähe anfangen. Oder er ist gleich der Besteigung eines hohen Bergs: Man muss von unten anfangen. In den Liedern steht:

 »Eintracht mit Weib und Kind

ist wie Harfen- und Zitherspiel.

Friede unter den Brüdern

schafft Freude und Frieden in Ewigkeit.

Heil sei deinem Hause,

Freude deiner Sippe!«

 Der Meister sprach: Und der Eltern Segen ruht darauf.

 

 

 

8. Die Himmlischen

 

 Der Meister sprach: Wie herrlich sind doch die Geisteskräfte der Götter und Ahnen! Man schaut nach ihnen und sieht sie nicht; man horcht nach ihnen und hört sie nicht. Und doch gestalten sie die Dinge, und keines kann ihrer entbehren. Sie bewirken, daß die Menschen auf Erden fasten und sich reinigen und Feiergewänder anlegen, um ihnen Opfer darzubringen. Wie Rauschen großer Wasser (ist ihr Wesen), als wären sie zu Häupten, als wären sie zur Rechten und Linken. In den Liedern steht:

 »Der Götter Nahen

lässt sich nicht ermessen.

Wie dürfte man sie missachten! «

 So weit geht die Offenbarung des Geheimnisvollen, die Unverhüllbarkeit des Wahren.

 

 

 

9. Die Patriarchen

 

Der Meister sprach: Schun besaß doch die größte Kindesehrfurcht! Durch seine Geisteskräfte war er ein Heiliger; er war geehrt als Himmelssohn und reich durch den Besitz alles Landes zwischen den vier Meeren. Im Ahnentempel wird er geehrt, und seine Söhne und Enkel hüten sein Angedenken noch heute. So findet große Geisteskraft stets ihre Stellung, stets ihren Lohn, stets ihren Ruhm, stets ihre Dauer.

    So verwirklicht der Himmel an seinen Geschöpfen das, was durch ihre Anlage begründet ist. Was steht, das stützt er; was fällt, das stürzt er. In den Liedern steht:

 »Der gute und erfreuliche Fürst,

wie strahlend sind seine Geisteskräfte!

Er ist ein Segen für das Volk und ein Segen für seine Leute.

Der Himmel hat ihm Reichtum verliehen.

Er schützt ihn und bestimmte ihm das Reich.

Vom Himmel her empfängt er's täglich neu. «

 So empfängt große Geisteskraft sicher ihre Bestimmung.

    Der Meister sprach: Wer keinen Kummer hatte, das  war wohl nur der König Wen. Den König Gi hatte er zum Vater, den König Wu zum Sohn. Der Vater hatte das Werk geschaffen, der Sohn setzte es fort.

    Der König Wu setzte das Werk fort, das der Große König, der König Gi und der König Wen begonnen. Ein einziges Mal zog er die Waffenrüstung an, und die Welt war sein. Und er selbst verlor darüber nicht den größten Ruhm auf Erden. Sein Name ward geehrt als Himmelssohn, er ward reich durch den Besitz alles Landes zwischen den vier Meeren. Im Ahnentempel wird er geehrt, und seine Söhne und Enkel hüten sein Andenken noch heute. Der König Wu empfing die Bestimmung (des Himmels) am Ende seines Lebens. Sein Bruder, der Herzog von Dschou, vollendete, was die Geisteskraft der Könige Wen und Wu begonnen. Er nannte mit dem Namen von Königen den Großen König und den König Gi, und opferte darüber hinaus all den früheren Herzögen nach den Sitten des Himmelssohns. Diese Sitte hat sich dann auch auf die Lehensfürsten, Großwürdenträger, Staatsmänner und Leute aus dem Volke verbreitet: Wenn der Vater ein Großwürdenträger war und der Sohn ein Staatsmann ist, so wird er begraben nach den Riten für Großwürdenträger und empfängt Opfer nach den Riten für Staatsmänner. Wenn der Vater ein Staatsmann war und der Sohn ein Großwürdenträger ist, so wird er begraben nach den Riten für Staatsmänner und empfängt Opfer nach den Riten für Großwürdenträger. Die einjährige Trauerzeit dehnte sich aus bis zu den Großwürdenträgern. Dagegen dehnte sich die dreijährige Trauerzeit aus bis zum Himmelssohn; denn die Trauer um die Eltern kennt nicht den Unterschied zwischen vornehm und gering, sie ist dieselbe bei allen Menschen.

 

 

 

10. Die Religion als Offenbarung der Weltordnung

 

Der Meister sprach: Der König Wu und der Herzog von Dschou verstanden sich doch wirklich auf die Kindesehrfurcht! Der Ehrfürchtige ist geschickt, die Absichten seiner Vorfahren fortzusetzen; er ist geschickt, die Taten seiner Vorfahren bekannt zu machen. Im Frühling und Herbst wurden die Ahnentempel instand gesetzt, die Opfergeräte aufgestellt, die Gewänder und Obergewänder ausgebreitet und die zeitgemäßen Speisen dargebracht. Die Sitten des Ahnentempels dienten dazu, die Reihenfolge der hellen und der dunklen Generationen zu regeln; die Reihenfolge nach dem Adelsrang diente dazu, zwischen Vornehmen und Geringen zu unterscheiden; die Reihenfolge der Geschäfte (beim Opfer) diente dazu, die Würdigen auszuzeichnen; beim Danksagungsmahl durften die Unteren den Oberen die Becher reichen, das diente dazu, die Geringen auch ankommen zu lassen; das Mahl für die Greise diente dazu, die Reihenfolge des Alters zu bestimmen. An die Stelle der Hingegangenen zu treten, ihre Sitten zu befolgen, ihre Musik aufzuführen, zu ehren, was sie wert gehalten, zu lieben, an was sie anhänglich waren, den Toten zu dienen, wie man den Lebenden dient, den Hingegangenen zu dienen, wie man den Anwesenden dient: das ist die  höchste Art der Sohnesehrfurcht.

    Die Sitte des Opfers auf dem Anger und dem Altar des Bodens diente dazu, den höchsten Gott zu verehren. Die Sitten im Ahnentempel dienen dazu, den Ahnen zu opfern. Wer die Sitte des Opfers auf dem Anger klar erkennte und den Sinn der Großen und der Regelmäßigen Ahnenopfer, der verstünde es, des Reichs zu walten, als läge es auf seiner flachen Hand.

 

 

2. Teil

 

1. Die Grundlage der Regierung

 

Herzog Ai fragte nach der Regierung. Der Meister sprach: Die Regierung im Frieden und im Krieg [oder der Könige Wen und Wu] steht aufgezeichnet in den Urkunden. Wenn die richtigen Menschen dazu da sind, so wird diese Regierung aufgenommen; wenn die richtigen Menschen dazu fehlen, so ruht diese Regierung. Im Weg des Menschen liegt es, die Regierung zu schaffen, wie es im Weg der Erde liegt, Pflanzen zu schaffen. Die Regierung wirkt wie die Schlupfwespe (die ihre Brut verwandelt).

    So kommt es für die Ausübung der Regierung auf die Menschen an. Die Menschen gewinnt (der Herrscher) durch seine Person, er bildet seine Person durch den Weg. Er bildet den Weg durch Menschlichkeit. Menschlichkeit bedeutet Menschentum. Die Liebe zu den Nächsten ist das Größte daran. Gerechtigkeit bedeutet das, was recht ist. Die Ehrung der Würdigen ist das Größte daran. Die Stufen der Liebe zu den Nächsten und die Arten der Verehrung der Würdigen sind es, aus denen die Sitte entsteht ...

    Darum darf der Edle es nicht unterlassen, seine Person zu bilden. Wer seine Person bilden will, darf es nicht unterlassen, seinen Eltern zu dienen. Wer seinen Eltern dienen will, darf es nicht unterlassen, die Menschen zu erkennen. Wer den Menschen kennen will, darf es nicht unterlassen, den Himmel zu erkennen.

 

 

2. Die fünf Wege und die drei Eigenschaften

 

Fünf Wege gibt es auf Erden, die immer gangbar sind, und die darauf wandeln, sind von dreierlei Art. Sie heißen Fürst und Diener, Vater und Sohn, Gatte und Gattin, älterer und jüngerer Bruder und der Verkehr der Freunde: Diese fünf sind die immer gangbaren Wege auf Erden. Weisheit, Menschlichkeit, Mut: Diese drei sind die immer wirksamen Geisteskräfte auf Erden. Zu ihrer Ausübung ist eines Not (die Entschlossenheit, ans Ziel zu kommen). Ob einer von Geburt dies erkennt oder durch Lernen es erkennt oder durch Mühsal es erkennt: wenn er es erkennt, ist alles Eines. Ob einer in ruhiger Sicherheit danach handelt oder, weil er es für Gewinn erachtet, danach handelt oder mit Anstrengung danach handelt: wenn er das Werk vollendet, ist alles Eines.

    Der Meister sprach: Liebe zum Lernen führt hin zur Weisheit, kräftiges Handeln führt hin zur Menschlichkeit, sich schämen können führt hin zum Mut. Wer diese drei Dinge weiß, der weiß, wodurch er seine Person zu bilden hat. Wer weiß, wodurch er seine Person zu bilden hat, der weiß, wodurch er die Menschen ordnen kann. Wer weiß, wodurch er die Menschen ordnen kann, der weiß, wodurch er die Welt, den Staat, das Haus ordnen kann.

 

 

 

3. Die neun Pfade zur Führung des Weltreichs

 

Für die Führung des Weltreichs gibt es neun Pfade: Pflege der Person, Ehrung der Würdigen, Liebe zu den Nächsten, Achtung vor den hohen Würdenträgern, Verständnis für die Menge der Beamten, väterliche Liebe zum geringen Volk, Heranziehung der verschiedenen Arbeiter, Milde gegen die Fremden, liebevolles Gedenken an die Lehensfürsten.

    Wenn man seine Person bildet, so wird der Weg gefestigt. Wenn man die Würdigen ehrt, herrscht keine Unklarheit (über die Gesinnung des Herrschers). Wenn man die Nächsten liebt, so entsteht unter den Verwandten und Brüdern kein Groll. Wenn man die hohen Würdenträger achtet, so wird der Überblick nicht verdunkelt. Wenn man Verständnis für die Menge der Beamten zeigt, so vergelten es die Staatsmänner reichlich durch ihre Ergebenheit. Wenn man väterliche Liebe zum geringen Volk hat, so feuern die Leute einander zum Guten an. Wenn man die verschiedenen Arbeiter heranzieht, so werden die Güter für den Verbrauch ausreichen. Wenn man milde ist gegen die Fremden, so strömen sie einem aus allen vier Himmelsgegenden zu. Wenn man der Lehensfürsten liebevoll gedenkt, so liegt die Welt in Ehrfurcht.

    Indem man fastet und sich reinigt und in feierlichen Gewändern (zum Opfer schreitet), indem man nichts tut, was der Sitte zuwider ist, bildet man seine Person. Indem man die Verleumder entfernt, sich frei hält von Sinnlichkeit, das Geld gering achtet und die Geisteskräfte schätzt, ehrt man die Würdigen. Indem man ihre Stellung geehrt macht und ihr Einkommen groß und ihre Neigungen und Abneigungen teilt, zeigt man die Liebe zu den Nächsten. Indem man ihnen ausreichende Unterbeamte zur Erledigung der laufenden Geschäfte zur Verfügung stellt, achtet man die hohen Würdenträger. Indem man die Gewissenhaften und Zuverlässigen mit reichen Einkünften versieht, zeigt man Verständnis für die Staatsmänner. Indem man sie zurzeit gebraucht und die Abgaben niedrig macht, feuert man die Leute aus dem Volke an. Indem man sie täglich besichtigt und monatlich prüft und je nach den Berichten ihnen ihre Arbeiten zuweist, zieht man die Arbeiter heran. Indem man sie bei ihrem Kommen empfängt und beim Abschied begleitet, ihr Gutes anerkennt und Rücksicht nimmt auf ihre Ungeschicklichkeiten, zeigt man Milde gegen die Fremden. Indem man erloschene Geschlechter fortsetzt und eingegangene Staaten wieder errichtet, die ungeordneten in Ordnung bringt und die gefährdeten stützt, zur rechten Zeit Audienzen hält und Gesandte empfängt, reiche Gastgeschenke spendet und geringen Tribut fordert, zeigt man das liebevolle Gedenken an die Lehensfürsten.

 

 

 

4. Das eine, was Not ist

 

Für die Führung des Weltreichs gibt es (diese) neun Pfade, doch die Gesinnung, in der man sie geht, ist dieselbe.

    Alle Dinge gelingen, wenn sie vorbereitet sind, und misslingen, wenn sie nicht vorbereitet sind. Sind die Worte zum voraus festgelegt, so stockt man nicht. Sind die Arbeiten zum voraus festgelegt, so kommt man nicht in Verlegenheit. Sind die Handlungen zum voraus festgelegt, so macht man keinen Fehler. Ist der Weg zum voraus festgelegt, so wird er nicht plötzlich ungangbar.

    Wer in Untergebener Stellung nicht das Vertrauen seiner Oberen hat, bekommt das Volk nicht so in die Hand, daß er es in Ordnung bringen kann. Das Vertrauen seiner Oberen zu erlangen, gibt es einen Weg: Wer nicht den Glauben seiner Freunde hat, findet nicht das Vertrauen seiner Oberen. Zum Glauben der Freunde gibt es einen Weg: Wer nicht bei seinen Nächsten beliebt ist, findet nicht das Vertrauen seiner Freunde. Zur Beliebtheit bei den Nächsten gibt es einen Weg: Wer zu seiner eignen Person sich wendet ohne Wahrheit, wird nicht bei seinen Nächsten beliebt. Zur Wahrhaftmachung der Person gibt es einen Weg: Wer nicht klar ist über das Gute, kann nicht seine Person wahrhaftig machen.

 

 

 

5. Die Wahrheit haben und die Wahrheit suchen

 

Die Wahrheit haben ist des Himmels Weg, die Wahrheit suchen ist der Weg des Menschen.

    Wer die Wahrheit hat, trifft das Rechte ohne Mühe, erlangt Erfolg ohne Nachdenken, wandelt mit selbstverständlicher Leichtigkeit auf dem mittleren Weg. Das sind die Heiligen.

    Wer die Wahrheit sucht, der wählt das Gute und hält es fest.

    Er forscht umfassend danach, er fragt kritisch danach, er denkt sorgfältig darüber nach, er untersucht es klar, er handelt entschlossen danach. Es mag Dinge geben, die er nicht erforscht; aber was er erforscht, davon lässt er nicht ab, bis er es kann. Es mag Dinge geben, nach denen er nicht fragt; aber was er fragt, davon lässt er nicht ab, bis er es weiß. Es mag Dinge geben, über die er nicht nachdenkt; aber worüber er nachdenkt, davon läßt er nicht ab, bis er es gefunden hat. Es mag Dinge geben, die er nicht untersucht; aber was er untersucht, davon lässt er nicht ab, bis es klar ist. Es mag Dinge geben, die er nicht tut; aber was er tut, davon lässt er nicht ab, bis er es beherrscht. Andre können es vielleicht aufs erste Mal, ich muss es zehnmal machen; andre können es vielleicht aufs zehnte Mal, ich muss es tausendmal machen. Wer aber wirklich die Beharrlichkeit besitzt, diesen Weg zu gehen: mag er auch töricht sein, er wird klar werden; mag er auch schwach sein, er wird stark werden.

    Von der Wahrheit zur Klarheit, das ist Naturveranlagung (Wesen); von der Klarheit zur Wahrheit, das ist Erziehung. Wer die Wahrheit hat, der hat auch die Klarheit; wer die Klarheit hat, der hat auch die Wahrheit.

    Nur wer auf Erden die höchste Wahrheit hat, kann sein Wesen durchdringen. Wer sein Wesen durchdringen kann, kann das Wesen der Menschen durchdringen. Wer das Wesen der Menschen durchdringen kann, der kann das Wesen der Dinge durchdringen. Wer das Wesen der Dinge durchdringen kann, der kann wie Himmel und Erde schöpferisch gestalten. Wer wie Himmel und Erde schöpferisch gestalten kann, der bildet mit Himmel und Erde die große Dreieinigkeit.

    Die nächste Stufe ist es, beim Kleinen und Einzelnen anzufangen und es in die Wahrheit zu bringen. Wahrheit wirkt Wirklichkeit, Wirklichkeit wirkt Sichtbarkeit, Sichtbarkeit wirkt Klarheit, Klarheit wirkt Bewegung, Bewegung wirkt Veränderung, Veränderung wirkt Umgestaltung. Nur wer auf Erden höchste Wahrheit hat, kann umgestalten.

    Der Weg der höchsten Wahrheit führt dazu, daß man die Zukunft voraus erkennen kann. Wenn ein Reich im Begriff ist aufzublühen, so gibt es stets günstige Vorzeichen; wenn ein Reich im Begriff ist unterzugehen, so gibt es stets unheilvolle Vorzeichen. Das offenbart sich in Schafgarbe und Schildkröte (beim Orakel) und regt sich in allen Gliedern. Ob Heil oder Unheil heraufzieht, so gibt es Gutes, das (der Heilige) sicher zum voraus erkennt, und Böses, das er zum voraus erkennt. Darum ist der, der die höchste Wahrheit hat, göttlich.

    Die Wahrheit vollendet durch sich selbst, und der Weg leitet durch sich selbst. Die Wahrheit ist Ende und Anfang aller Dinge. Ohne Wahrheit gibt es kein Ding. Darum hält der Edle die Wahrheit wert. Der Wahre macht nicht nur sich selbst vollkommen, sondern eben dadurch macht er auch die Außendinge vollkommen. Sich selbst vollkommen machen ist Menschlichkeit, die Außendinge vollkommen machen ist Weisheit. Das sind die Geisteskräfte des Wesens und der Weg zur Vereinigung des Äußern und des Innern. Ihn allezeit anzuwenden geziemt sich.

    Darum gibt es für die höchste Wahrheit kein Ablassen; Unablässigkeit führt zur Dauer, Dauer führt zur Wirkung, Wirkung führt zur Fortwirkung in die Ferne, Fortwirkung in die Ferne führt zu Weite und Festigkeit, Weite und Festigkeit führen zu Höhe und Klarheit.

    Weite und Festigkeit: dadurch werden die Dinge getragen; Höhe und Klarheit: dadurch werden die Dinge beschirmt. Durch ununterbrochene Dauer werden die Dinge vollkommen. Weite und Festigkeit ist der Erde zugeordnet. Höhe und Klarheit ist dem Himmel zugeordnet. Ununterbrochene Dauer ist Unendlichkeit.

    Wer das erreicht hat, der offenbart sich, ohne sich zu zeigen, verändert, ohne sich zu bewegen, macht vollkommen, ohne zu handeln. Der Weg von Himmel und Erde lässt sich mit einem Wort erschöpfen: Weil sie in ihrem Wesen (Substanz) ohne Zweideutigkeit sind, deshalb erzeugen sie Wesen (Substanzen) unergründlich.

    Der Weg von Himmel und Erde ist weit und fest und hoch und klar und ununterbrochen und dauernd.

    Nun ist der Himmel eben das leuchtende Etwas (das wir sehen); aber in seiner Unendlichkeit hält er Sonne, Mond, Sterne und Tierkreiszeichen fest und schirmt alle Dinge. Nun ist die Erde eben diese Hand voll Staub (die ich fassen kann); aber in ihrer Weite und Festigkeit trägt sie das Huagebirge, und es ist ihr nicht zu schwer; sie leitet die Ströme und Meere, daß sie nicht überfließen, und trägt alle Dinge. Nun ist der Berg eben diese Faust voll Steine; aber in seiner Weite und Größe wachsen auf ihm Kräuter und Bäume, wohnen auf ihm Vögel und Tiere, und Schätze sind in ihm verborgen in großen Mengen. Nun ist das Wasser eben dieser Löffel voll Flüssigkeit; aber in seiner Unergründlichkeit leben Leviathan und Krokodil, allerlei Drachen, Fische und Schildkröten, und kostbare Güter erzeugt es. In den Liedern heißt es:

 

»Des Himmels Wille

ist dunkel und ewig.«

 

Damit ist ausgedrückt, wodurch der Himmel, Himmel ist. (Ferner heißt es:)

 

»O wie verborgen

ist die Reinheit der Geisteskraft des Königs Wen.«

 

Damit ist ausgedrückt, wodurch der König Wen Wen (vollendet) war: Seine Reinheit war auch ewig (unaufhörlich).

 

 

 

6. Der Weg des Heiligen

 

Wie groß ist doch der Weg des Heiligen! Strömend erzeugt und nährt er alle Wesen und ragt empor zum Himmel.

    Wie viel in seiner Größe befasst ist! Der Sittenregeln sind dreihundert, der Einzelregeln sind dreitausend. Aber sie warten auf den rechten Mann; dann erst können sie wirken. Darum heißt es: Ohne einen Mann von höchster Geisteskraft, der den höchsten Weg beschreitet, verwirklicht es sich nicht.

 

 

 

7. Der Weg des Edlen

 

Deshalb ehrt der Edle das Wesen, aus dem die Geisteskraft (ausstrahlt), und schreitet vor auf dem Weg des Fragens und Forschens. Er ermisst alle Weite und Größe und durchdringt alles Geistige und Geheimnisvolle. Er verfolgt alle Höhen und Klarheiten und schreitet auf dem Weg von Maß und Mitte. Er übt das Alte und erkennt das Neue. Er ist ehrlich und fest und hält die Sitte hoch.

    Darum ist der Edle als Oberer nicht stolz und als Unterer nicht aufsässig. Wenn in einem Staat der Weg (der Ordnung) herrscht, so reichen seine Worte hin, ihm Einfluss zu verschaffen. Wenn in einem Staat der Weg verloren ist, so reicht sein Schweigen hin, ihm Duldung zu verschaffen. In den Liedern heißt es:

 

»Wer klar ist und weise,

der weiß sich zu schützen.«

 

Damit ist wohl eben dies gemeint.

 

 

 

 

8. Falsche Wege

 

Der Meister sprach: Wer töricht ist und doch alles selber machen will; wer niedrig ist und doch seinen Willen durchsetzen will; wer in der heutigen Zeit lebt und doch zu den Wegen des Altertums zurückkehren möchte: solche Menschen, die wird das Verderben treffen.

 

 

 

9. Die Bedingungen des Kulturschaffens

 

Außer dem Himmelssohn hat niemand das Recht, die Sitten zu bereden, Maße zu schaffen und die Schreibart zu prüfen.

    Heutzutage haben alle Wagen auf Erden dieselbe Spurweite, alle Bücher dieselben Schriftzeichen und alle Handlungen dieselben gesellschaftlichen Regeln.

    Wenn aber einer zwar die Stellung hat, aber nicht die Geisteskräfte, so soll er nicht wagen, Sitte und Musik zu schaffen. Wer andererseits zwar die nötigen Geisteskräfte hat, aber nicht die Stellung, der soll auch nicht wagen, Sitte und Musik zu schaffen.

 

 

 

10. Die Bestätigungen

 

Der Meister sprach: Ich könnte über die Sitten der Hiazeit sprechen, aber der Staat Ki (wo heute die Nachkommen der Hia sitzen) ist nicht imstande, die Bestätigungen (für meine Worte) zu liefern. Ich habe die Sitten der Yinzeit erforscht, und in Sung ist noch manches davon vorhanden. Ich habe die Sitten der Dschouzeit erforscht. Sie sind heute noch im Gebrauch. Ich folge den Sitten von Dschou.

    Wer über die Welt herrscht, hat drei (vorangehende Dynastien) wichtig zu nehmen, durch die er die Fehler verringern kann. Was darüber hinausgeht, mag wohl gut sein, aber es lässt sich nicht bestätigen. Was nicht bestätigt ist, wird nicht geglaubt; was nicht geglaubt wird, dem folgen die Leute nicht. Was darunter ist, mag wohl gut sein, aber es wird nicht geehrt (weil es noch nicht durch Alter ehrwürdig geworden ist). Was nicht geehrt ist, wird nicht geglaubt; was nicht geglaubt wird, dem folgen die Leute nicht.

    Darum wurzelt der Weg des Edlen in seiner eigenen Persönlichkeit, er bestätigt ihn durch (die Zustimmung) des Volkes, er prüft ihn an (den Einrichtungen) der drei (vorangehenden) Königsgeschlechter und findet keinen Widerspruch. Er fügt ihn ein in (den Naturverlauf von) Himmel und Erde und findet keinen Anstoß. Er legt ihn den Geistern und Göttern vor und findet keinen Zweifel. Und wenn nach hundert Geschlechtern ein (anderer) Heiliger auftritt, so wird auch der kein Bedenken haben. Dass er ihn den Geistern und Göttern vorlegt und keinen Zweifel findet, ist ein Beweis, daß er den Himmel kennt. Dass, wenn nach hundert Geschlechtern ein Heiliger auftritt, dieser keine Bedenken hat, ist ein Beweis, daß er den Menschen kennt. Darum: Wenn der Edle sich rührt, so schafft er auf viele Geschlechter hinaus für die Welt einen Weg. Wenn er handelt, so schafft er auf viele Geschlechter hinaus für die Welt ein Vorbild. Wenn er redet, so schafft er auf viele Geschlechter hinaus für die Welt einen Maßstab. Die ferne von ihm sind, blicken sehnsüchtig nach ihm aus; die nahe bei ihm sind, werden seiner nie müde. In den Liedern heißt es:

 

»Dort ist kein Hass.

Hier ist kein Überdruss.

Zu hoffen ist, daß Tag und Nacht

nur jeder sei auf Preis bedacht.«

 

Noch nie hat ein Edler anders als auf diesem Weg frühzeitig Ruhm erlangt in der Welt.

 

 

 

11. Apotheose des Kung Dsï

 

Dschung Ni nahm Yau und Schun als seine Ahnen, die er fortsetzte, und nahm Wen und Wu als Gesetz, nach dem er richtete. Dem Himmel droben lauschte er seine Zeiten ab und dem Wasser und der Erde drunten ihre Geheimnisse. So ist er gleich wie Himmel und Erde, die alles halten und tragen und alles schirmen und decken, gleich wie die vier Jahreszeiten, die im Wechsel einander folgen, wie Sonne und Mond, deren Licht abwechselnd scheint.

    Alle Wesen leben gleichzeitig und schaden einander nicht, ihre Wege ziehen sie gleichzeitig und stoßen nicht zusammen. Die kleinen Lebenskräfte durchdringen das Weltall wie Flüsse, die großen Lebenskräfte wirken gestaltend und umgestaltend. Das ist es, warum Himmel und Erde so groß sind!

 

 

 

12. Der höchste Heilige

 

Nur der höchste Heilige auf Erden vermag so feinhörig, klarsichtig, ahnend und erkennend zu sein, daß er sich (dieser Welt) zu nahen vermag; nur er ist so weitherzig, großmütig, milde und weich, daß er sie zu ertragen vermag; nur er ist so anregend, stark, fest und kühn, daß er sie festzuhalten vermag; nur er ist so gleichmäßig, ernst, maßvoll und recht, daß er sich Achtung zu verschaffen vermag; nur er hat Ordnung und Folge, Scharfsinn und Beobachtung genug, um unterscheiden zu können.

    Weit und allgemein ist er wie ein tiefer Quell, der Wasser spendet zu seiner Zeit. In seiner Weite und Allgemeinheit ist er wie der Himmel, in seiner tiefen Quellenart ist er wie der Abgrund. Wenn er sich offenbart, so ehrt ihn alles Volk; wenn er redet, so glaubt ihm alles Volk; wenn er handelt, so freut sich alles Volk. Darum breiten sein Name und Ruf sich aus in den mittleren Reichen und wirken bis hin zum fernsten Süden und Norden. Wo Schiffe und Wagen hinkommen, soweit die Kraft der Menschen reicht, was der Himmel schirmt und die Erde trägt, wo Sonne und Mond hinscheinen, Reif und Tau hinfallen: alles, was Blut und Odem hat, ehrt und liebt ihn. Darum heißt es: Er ist dem Himmel zugeordnet.

 

 

 

13. Der höchste Wahre

 

Nur der höchste Wahre auf Erden kann die großen Gewebe der Welt entwirren und ordnen, die großen Grundlagen der Welt aufrichten und Gestaltung und Werden im Himmel und auf Erden erkennend leiten. Wie könnte er sich auf eine Seite neigen!

    So echt ist seine Menschlichkeit, so unergründlich seine Tiefe, so strahlend hell sein Himmlisches!

 

 

 

14. Der Edle

 

Wer nicht selber wirklich feinhörig, klarsichtig, heilig, weise und der Lebenskräfte des Himmels kundig ist, wie könnte ihn ein solcher erkennen! In den Liedern heißt es:

 

Ȇber dem reich gestickten Kleid

trägt sie ein schlichtes Obergewand.«

 

Damit ist ausgedrückt die Abneigung gegen das Scheinen der Zierde. So ist des Edlen Weg verborgen und strahlt von Tag zu Tag mehr. Des Gemeinen Weg ist sichtbar wie eine Zielscheibe, und wenn sein Tag gekommen ist, so ist er verschwunden.

    Des Edlen Weg ist schmucklos, aber man wird seiner nie müde; er ist einfach, aber geordnet; er ist milde, aber hat Folge. Nur wer weiß, wie man vom Nahen aus zum Fernen kommen kann, wer weiß, woher der Einfluss kommt, wer weiß, was das offenbare Geheimnis ist, der mag mit ihm zusammen eindringen in die Tiefen der Lebenskraft. In den Liedern heißt es:

 

»Ob er sich auch in allen Tiefen birgt,

er leuchtet deutlich doch hervor.«

 

Darum achtet der Edle auf sein Inneres, ob er keinen Makel hat, ob er nichts Schlechtes hat in seinem Willen. Worin der Edle unerreichbar bleibt, sind lauter Dinge, die die Menschen gar nicht sehen. In den Liedern heißt es:

 

»Wenn du in deinem Hause bist,

tu nichts, daß du dich vor den Wänden schämen musst.«

 

Darum braucht der Edle sich nicht zu bewegen, und man ehrt ihn doch; er braucht nicht zu reden, und man glaubt ihm doch. In den Liedern heißt es:

 

»Ich rufe schweigend ihn durch heilige Musik,

so gibt es keinen Widerspruch.«

 

So braucht der Edle nicht zu belohnen, und das Volk wird dennoch angefeuert; er braucht nicht zu zürnen, und das Volk fürchtet ihn doch mehr als Beil und Axt. In den Liedern heißt es:

 

»Nichts ist so offenbar wie Geisteskraft,

die Fürsten alle bilden sie dir nach.«

 

Darum ist der Edle ernst und ehrfürchtig, und die Welt kommt in Frieden. In den Liedern heißt es:

 

»Ich liebe die klare Geisteskraft,

die sich nicht laut und sichtbar kündet.«

 

 

 

 

15. Das höchste Geheimnis

 

Der Meister sprach: Die hörbaren und sichtbaren Mittel, um das Volk zu gestalten, sind die letzten (die angewendet werden dürfen). In den Liedern heißt es:

 

»Die Geisteskraft ist leicht wie ein Haar.«

 

Aber auch ein Haar hat noch Beziehungen (und dadurch Bindungen).

 

»Der Himmel schafft

lautlos und ohne Spur.«

 

Das ist das Höchste.