12. Kapitel
Die Gnosis und ihre Anhänger
„Das Reich ist in euch und es ist um euch. Wenn ihr euch selbst erkennt, so werdet auch ihr erkannt und ihr werdet verstehen, dass ihr die Söhne des lebendigen Vaters seid“.
Waren wir in den letzten Zeilen bei den großen Religionen und deren Auswirkung auf unsere Menschheit, so wollen wir uns noch einen Moment auf diesem Gebiet verweilen. Nun haben wir erfahren, dass selbst bei Legenden und Mythen die Wahrheit im Anfang, im Fundament zu finden ist. Aus diesem Grund wollen wir uns auch mit einigen anfänglichen Grundzügen unseres religiösen Denkens und Glaubens beschäftigen, da wir auch hier einen Teil der Wahrheit finden werden, zumindest aber den Anstoß zum Umdenken in die möglicherweise richtige Richtung.
Die Gnostiker
Eine der ersten Spaltungen innerhalb des christlichen Glaubens erfolgte zwischen jenen, die auf eine persönliche Offenbahrung vertrauten, und denen, die es vorzogen, den Lehren von Menschen zu folgen, welche von den Aposteln gelernt hatten. Die Erstgenannten bezeichnete man als Gnostiker. Bis die Bibliothek von „Nag Hammadi“ Ende der vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in Ägypten wieder ans Tageslicht kam, kannte man die Gnostiker lediglich aufgrund einiger Manuskriptfragmente, in denen sich ein Teil ihrer Lehren verzeichnet fand, sowie aus Zusammenfassungen ihrer Glaubensgrundsätze, die in Schmähschriften gegen sie gerichtet wurden. Die gründlichste Schrift dieser Art stammt von Irenaeus, dem Bischof von Lyon, der im späten zweiten Jahrhundert lebte. Da wir nun einige jener texte kennen, gegen die er wetterte, können wir die Gnostiker und ihren Glauben besser verstehen. Als erstes muss man hinsichtlich der Gnostiker begreifen, dass sie keine organisierte Sekte bildeten. Sie gehörten keiner Kirche an. Sie waren auch nicht unbedingt Christen, obwohl sie es gewesen sein könnten. Sie besaßen keine einheitlichen Glaubensgrundsätze oder ein Glaubensbekenntnis. Sie kannten auch keine Bischöfe, Konzile oder Wohltätigkeitsbasare. Viele von ihnen lebten mönchsähnlich in Gruppen zusammen, andere wieder unterhielten eigene Wohnungen in den Städten. Die einzige Gemeinsamkeit, von der wir mit Sicherheit wissen, war der Umstand, dass die Anführer der erstarkenden städtischen Kirchen sie als Ketzer ansahen und dass dieses Empfinden auf Gegenseitigkeit beruhte. Das Wort „Gnostiker“ leitet sich ab vom griechischen „Gnosis“, was soviel bedeutet wie >Erkenntnis< oder >Wissen<. In den uns zugänglichen gnostischen Werken hat es jedoch wohl eher die (Er-) Kenntnis des Göttlichen bedeutet, die sich durch Askese und Meditation einstellt. Es kann sich auch um ein geheimes Wissen handeln, dass die Eingeweihten untereinander weitergaben. In den ersten beiden Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung beeinflussten die so genannten „Mysterien-Kulte“ die Religionen Griechenlands und Roms. Viele stammen ursprünglich aus Ägypten oder dem nahen Osten. Die beiden populärsten waren die Kulte um „Isis“ und „Mithras“. Aber es existierte noch ein weiterer um Hermes Trismegistos (der dreimal größere Hermes). Dies war der griechische Name für den Ägyptischen Gott „Thoth“. Ein ihm zugeschriebenes Buch entstand vermutlich zu Anfang des zweiten Jahrhunderts und ist aus früheren Materialien zusammengeschrieben. Es ist auf keinen Fall jüdischen oder christlichen Inhalts, aber es bedient sich oft derselben Terminologie wie die christlichen gnostischen Texte. Im ersten Hermetischen Buch sagt Poimandres (der Sucher) zu dem Boten: „Ich wünsche die Dinge zu lernen, die da sind, und ihre Natur zu verstehen und Gott zu erkennen“. Später sagt Poimandres zum Sucher: „Ich bin der Geist, dein Gott. Das Leuchtende Wort, das vom Geist kam, ist Gottes Sohn. So musst du es verstehen. Das, was in dir sieht und hört, ist der Herr, und dein Geist ist Gott der Vater. Sie sind nicht voneinander getrennt, denn ihre Verbindung ist das Leben“. Hier liegen durchaus inhaltliche Übereinstimmungen vor mit dem christlichen Evangelium der Wahrheit aus Nag Hammadi: „Wenn der Vater erkannt ist löst sich der Mangel in der Vollkommenheit. Von jenem Augenblick an ist also die Gestalt nicht offenbar, sondern sie wird eingehen in die Verschmelzung der Einheit, denn jetzt liegen ihre Werke in Scherben. Es ist in der Einheit, dass ein jeder sich erfüllen möge; in der Erkenntnis wird er sich verklären von der Vielfalt in die Einigkeit“. Die beiden Abschnitte spiegeln das zentrale Thema der Gnostiker wider – ob Christen, Juden oder Heiden. Durch sämtliche Schriften zieht sich der rote Faden des Verlangens nach dem vollständigen Verstehen des Göttlichen und der Einheit mit ihm. Dieser Faden findet sich auch im „Marienevangelium“. „Herr, wenn jemand dir in einem Augenblick der Vision begegnet, sieht er dich dann durch die Seele oder durch den Geist“? Der Lehrer antwortet: „Er ist weder durch die Seele noch durch den Geist, sondern durch das Bewusstsein (nous) zwischen den beiden, welches die Vision erblickt“. Die eindeutigen gnostischen Aussagen, ebenso wie die Tatsache, dass sie von einer Frau stammten, können sehr wohl dafür verantwortlich sein, dass dieses Buch bei der Zusammenstellung des Neuen Testamentes keine Beachtung erfuhr. Hier stellt sich aber nun die Frage, warum lief diese Idee, dass Erleuchtung von innen herrührt, dem Glauben an das Christentum so zuwider? Warum lehnte die Mehrheit der frühen Christen sie ab? Der Grund dafür ist, dass die meisten Gnostiker Dualisten waren. Sie glaubten, dass die Welt zu schlecht sei, um von einem gütigen Gott erschaffen worden zu sein. Daher existieren so viele abweichende Erklärungen über die Erschaffung der Erde und all ihre Dinge. Einige glaubten, dass gefallene Engel oder andere böse Wesen sie entstehen ließen. In der „Geheimschrift des Johannis“ formt die Äone Sophia ein halb göttliches Wesen aus ihrem eigenen Leib: „Sie wollte ein Ebenbild ihrer selbst ohne Zustimmung des Geistes erschaffen – denn eine Einwilligung gab er nicht – und ohne ihren Gatten“. Sie gebiert ein Ungeheuer namens „Yaltabaoth“, das sich für einen Gott hält. Er erschaffe Adam und den Rest der befleckten Welt. In vielen gnostischen Evangelien finden sich Variationen dieses Themas. Fast alle Evangelien sehen die Welt als verderbt an. Wird sämtliche Materie als unrein empfunden, so ist die Vorstellung eines Gottes, der die Gastalt eines Menschen annimmt, abstoßend. Die gnostischen Doketisten leugneten die zentrale Vorstellung des Christentums, dass Jesus sowohl aus Fleisch und Blut als auch von göttlicher Natur war und dass er für die Menschheit wahrlich litt und starb. Eine solche Verweigerung erschien den meisten Christen unverständlich. Wo lag der tiefere Sinn, wenn jemand einfach nur starb? Das göttliche Opfer und die menschliche Wiederauferstehung waren der Beweis der Barmherzigkeit Gottes für die Wesen, die er erschaffen hatte; das Versprechen vom Leben nach dem Tode. Daraus erwuchs die theologische Begründung für die Verdammung des Gnostizismus auf vielen Kirchenkonzilien, besonders aber auf dem >Konzil von Nizäa<. Ein weiterer Grund für den geringen Erfolg der Gnostiker war ihr mangelndes Interesse an weltlichen Dingen. Da sie keine verbindlichen Bücher besaßen, wie die Christen sie zusammenstellten, bestand keine homogene Doktrin, in der sie übereinstimmten. Sie kannten auch keine Hierarchie aus Bischöfen, Priestern, Diakonen, Diakonissen und so weiter, die sich im zentralen Christentum seit den Paulusbriefen entwickelt hatte. Schlimmer noch: Ein Großteil der Gnostiker verweigerte sich der Fortpflanzung, die sie als Verlängerung einer befleckten Schöpfung ansahen. Kleine Gnostiker waren sehr selten. Die meisten Christen zogen es vor, sich in der Welt einzurichten, Kinder aufzuziehen und sich des Lebens zu freuen. Sie wollten eine Religion, die diese Wünsche respektierte, und einen Gott, der über sie, wie über ein verlorenes Schaf oder einen flügellahmen Vogel wachte. Der Gnostizismus war ihnen zu deprimierend. Dennoch, mit dem Problem eines liebenden Gottes, der eine Welt erschaffte, in der das Böse gedeiht, hat sich noch jede Gesellschaft herumschlagen müssen. Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert kontrollierte die heidnisch dualistische Bewegung der Katharer einen großen Teil des heutigen Südfrankreichs. Durch das orthodoxe Christentum hat sich bis heute ein roter Faden des Gnostizismus gezogen. Seit den frühesten Tagen haben die Menschen Armut und Keuschheit im Namen Christi gelebt. Mystizismus blieb ebenfalls ein Teil des religiösen Lebens, wenngleich er gelegentlich Argwohn ausgesetzt war. Es gibt eine Unzahl von Briefen und Reden, die die Menschen davor warnen, den flüchtigen Dingen der Erde nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Zahlreiche Geschichten der Gnostiker überstanden die Jahrhunderte in der Form > Apokrypher Evangelien. Diese Evangelien wurden nicht unterdrückt; sie wurden bloß nicht in das Neue Testament aufgenommen. Im Mittelalter waren die Evangelien von Thomas und Philipp, die Taten des Paulus und der Thekla sowie die Apokalypse des heiligen Petrus dem Volk wohl bekannt. Zwar scheint das Marienevangelium die Zeit nicht überdauert zu haben, aber die Überlieferung von > Maria Magdalene als „Apostelin der Apostel“ blieb erhalten. Die Bücher, die bei Nag Hammadi gefunden wurden, enthielten auch einige texte mit mystischen Formeln für einen Aufstieg zu einer höheren Daseinsebene. Diese Texte und viele andere ähnlichen Inhalts tauchen, oft in nur bruchstückhafter Form, in Bücher über Magie und Mystizismus auf. Im neunzehnten Jahrhundert etablierte sich in Frankreich eine gnostische Kirche, die Weltweit Anhänger hat. Ihr amerikanisches Hauptquartier liegt in Philadelphia. Die beste Art, etwas über die Gnostiker zu erfahren, besteht darin ihre Texte zu lesen, bevor man sich den Texten über sie zuwendet. Auch in der Übersetzung wird dem Leser das gesamte Werk verständlich. Es ist durchaus klar, dass diejenigen Christen, die Ehrfurcht vor der Autorität befürworteten, die Debatte vor mehr als tausend Jahren gewannen. Die bedeutet aber noch lange nicht, dass die Menschen heute nicht mehr für sich selbst entscheiden können, worum es bei den Gnostikern ging. Diese Entscheidung würde die Gnostiker mit Stolz erfüllen. |
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