7.    Kapitel

 

 David Seton,

der schwer fassbare Ritter

 

   Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte ein bekannter Anwalt und Antiquar namens James Maidment, dessen besonderes Interesse der Genealogie galt, eine Chartularia – das heißt eine Schriftrolle oder gebundene Sammlung von Landerwerbsurkunden – für „Terrae templariae“, die dem Orden des heiligen Johannes zwischen 1581 und 1596 eingegliedert worden waren. Neben den beiden bekannten Ordenshäusern in Balantrodoch und Maryculter führte dieses Dokument drei weitere an: in Auldlisten, Denny und Thankerton.

Es verzeichnete auch mehr als fünfhundert sonstiger Templerbesitzungen. Von Pachtgrundstücken und Feldern, Getreidemühlen und Bauernhöfen bis hin zu Schlössern und Ortschaften. Von dieser Entdeckung angespornt, intensivierte Maidment seine Forschungen. Seine abschließende Auswertung – das Manuskript wird in der „National Library of Scotland“ verwahrt – enthält nicht weniger als 579 namentlich genannte Templerbesitzungen.

Was war aus diesem Land geworden? Wie hatte man es veräußert, und weshalb waren nahezu alle einschlägigen Aufzeichnungen aus der historischen Chronik verschwunden? Ein Teil der Antworten lässt sich bei einer Familie finden, die zurzeit von Robert Bruce zu den bedeutendsten und einflussreichsten in Schottland gehörte. Sie hieß Seton.

Wie wir gehört haben, war Sir Christopher Seton mit der Schwester von Bruce verheiratet. Er war zugegen, als Bruce John Comyn ermordete und er selbst tötete Comyns Onkel, als dieser einzugreifen versuchte. Er wohnte auch der Krönung von Bruce, in Scone im Jahre 1306 bei. Später wurde er während der Schlacht von Methven gefangen genommen und auf Befehl Edwards I. hingerichtet. Ein ähnliches Schicksal traf seinen Bruder Sir John Seton, ebenso wie der Bruder von Bruce, ein gewisser Neil. Im Jahre 1320 unterzeichnete Christopher Setons Sohn Alexander, zusammen mit Vertretern anderer hochrangiger schottischer Familien, etwa der Sinclairs, die Deklaration von Arbroath.

Die Setons sollten weitere vierhundert Jahre lang eine herausragende Rolle in der schottischen Politik und für den schottischen Nationalismus spielen. Deshalb ist es kein Akt besonderer Eitelkeit, dass noch ein Seton, nämlich George, im Jahre 1896 eine umfassende Chronik seiner Vorfahren anfertigte. In diesem außergewöhnlich gewaltigen Band mit dem Titel: „A History of the Family of Seton“ verzeichnet der Autor zahlreiche seiner Ahnen, die teils belanglose, teils erlauchte Titel tragen. Er führt auch viele andere Setons an, die in herkömmlichen Adelsverzeichnissen nicht genannt werden. Einige sind bescheidene Handwerker und Bürger. In diesem Wald aus wuchernden Familienstammbäumen findet man eine besonders rätselhafte, doch relevante Eintragung: „ca. 1560. Als die Tempelritter durch Mitwirkung ihres Großmeisters Sir James Sandilands ihres Vermögens beraubt wurden, zogen sie gemeinsam davon, an der Spitze David Seton, Großprior von Schottland (Neffe Lord Setons?). Auf diesen Vorgang wird in einem merkwürdigen satirischen Gedicht jener Zeit angespielt:

 

Die heilige Kirche und ihre Diebe

Pfui also dem Verräter,

Dem dieses Übel schulden wir,

Dem Judas gleich in seiner Gier!

Pfui ihm, verkaufte doch der Unhold

Heil´ge Erde gegen rotes Gold;

Doch spürt´ der Tempel kein Verzagen,

Als David Seton das Kreuz getragen.

 

David Seton starb 1581 im Ausland und soll in der Schottenkirche in Ratisbon (heute Regensburg) begraben sein.

Dies ist mit seinem ausdrücklichen Hinweis auf den Tempel, ein faszinierendes Fragment. Sein Datum lässt es noch faszinierender werden. Zweieinhalb Jahrhunderte nach der offiziellen Auflösung des Ordens waren die Templer dem Gedicht zufolge in Schottland immer noch überaus aktiv und machten eine neue Krise durch. Aber wer war eigentlich David Seton? Und wer war Sir James Sandilands?

Zumindest der letztere ist recht leicht aufzuspüren. James Sandilands, Erster Baron Torphichen, wurde um 1510 als zweiter Sohn einer Familie von Landadligen in Midlothian geboren. Sandilands Vater war mit John Knox befreundet, der, nachdem er im Jahre 1555 aus Genf nach Schottland zurückgekehrt war, auf dem Familiensitz in Calder wohnte. Ungeachtet der Verbindung seines Vaters zu einem protestantischen Reformator trat der junge James Sandilands kurz vor 1537 in den Orden des heiligen Johannes ein. Im Jahre 1540 bat er Jakob V. um sicheres Geleit für eine Reise nach Malta, wo er sich vom Großmeister des Ordens offiziell das Recht bestätigen lassen wollte, nach dem Tode Walter Lindsays, des damaligen Präzeptors von Torphichen, dessen Amt zu übernehmen. Dieses Recht bestätigte Juan d´Omedes, der Großmeister der Hospitaliter, im Jahre 1541. Während der Heimreise aus Malta machte der ehrgeizige junge Mann in Rom halt und ließ die ihm gerade versprochene Pfründe vom Papst ratifizieren.

Walter Lindsay starb im Jahre 1546. Ein Jahr später erkannte der Großmeister in Malta Sandilands offiziell als Prior von Torphichen an.

Er zog als Lord St. John ins schottische Parlament ein und wurde Mitglied des Kronrats. Um 1557 war er wieder in Malta, um mit einem mutmaßlichen Verwandten, ebenfalls einem Ordensangehörigen, einen langwierigen und anscheinend recht albernen Disput über eine Adelsbescheinigung auszufechten. Zur Schande beider Männer mündete der Streit in eine öffentliche Schlägerei, und der mutmaßliche Verwandte wurde inhaftiert. Im Jahre 1558 kehrte Sandilands nach Schottland zurück. Hier unterstützte er, gemeinsam mit seinem Vater, die Reformation und leistete der regierenden Königin Maria von Guise aktiven Widerstand. Diese war die ältere Schwester von Franz, Herzog von Guise, und Karl, Kardinal von Lothringen, und sie hatte Jakob V. im Jahre 1538 geheiratet.

Zunächst mag verblüffend erscheinen, dass Sandilands die Sache der protestantischen Reform gegen den eisern katholische Herrscherin vertreten und gleichzeitig ein geachtetes Mitglied eines katholischen Militärordens bleiben konnte. Er schaffte es jedoch, diesen Konflikt zu lösen, und seine tiefer liegenden Motive sollten bald allzu deutlich werden. Im Jahre 1560 hob das schottische Parlament die Autorität des Papstes im Lande durch ein Gesetz auf und annullierte die Rechte des Johanniterordens auf das „Ordenshaus von Torphephen, Fratribus Hospitalis Hierosolimitani, Militibus Templi Solomonis“. Als Prior der Hospitaliter war Sandilands also verpflichtet, der Krone die Besitzungen zu übergeben, die er für den Orden verwaltete. Er hatte keine Einwände. Vielmehr präsentierte er sich der neuen Monarchin Maria Stuart im Jahre 1564 als gegenwärtiger Besitzer der Lordschaft und der Ordenshäuser von Torphephen, das nie irgendeinem Kapitel oder Konvent außer dem der Ritter Jerusalems und dessen salomonischen Tempels unterworfen war.

Gegen Zahlung einer Pauschalsumme von zehntausend Kronen sowie eine jährliche Abgabe sicherte Sandilands sich sodann den ständigen Prachtbesitz der Ländereien, die er zuvor für die Hospitaliter verwaltet hatte. Im Rahmen des Geschäftes wurde ihm auch der Erbtitel „Baron Torphichen“ zuerkannt.

Mit einem fast modern anmutenden Unternehmergeist brachte Sandilands die Hospitaliter also um ihre Ländereien, während er selbst einen stattlichen Profit machte. Das vorher zitierte Gedicht bezieht sich somit höchstwahrscheinlich auf diese Angelegenheit, denn die Güter, die Sandilands veräußerte, gehörten nicht nur den Hospitalitern, sondern stellten auch einen Teil des Templervermögens dar.

Im Jahre 1567 wohnte Sandilands der Krönung Jakobs VI. von Schottland (Jakobs I. von England) bei. Er starb im Jahre 1579 und wurde von seinem Großneffen James Sandilands (geb. 1574) beerbt, der den Titel Zweiter Baron Torphichen übernahm. Doch der junge Mann geriet bald in finanzielle Schwierigkeiten und verkaufte die ererbten Ländereien. Gegen 1604 waren sie an einem gewissen Robert Williamson übergegangen, der sie elf Jahre später an Thomas, Lord Binning, den späteren Earl of Haddington, verkaufte. Danach hatten sie eine Reihe von Besitzern, bis James Maidment zu Beginn des 19. Jahrhunderts die verbleibenden Grundstücke erwarb.

Während man Sir James Sandilands Sputen relativ leicht folgen kann, ist David Seton weitaus schwerer zu fassen. Die Frage ist nicht nur, wer er war, sondern auch, ob er überhaupt existierte. Der einzige Beleg für seine Existenz ist das zitierte Gedicht, das George Seton veranlasste, ihm im Familienstammbaum von 1896 etwas verwundert eine Fußnote einzuräumen. Und doch nehmen Wissenschaftler das Gedicht ernst genug, um es als Hinweis auf etwas zu interpretieren, dass wie durch eine Verschwörung der Geschichte und der handelnden Personen in verborgenen geblieben ist.

Sandilands war ein Gegner des dynastischen Bündnisses zwischen den Stuarts und dem Haus Lothringen sowie dessen Ableger, dem Haus Guise. George Seton gehörte zum anderen Lager. Im Jahre 1527 heiratete er Elizabeth Hay; sie hatte zwei Söhne, von denen der ältere, ein Vertrauter Maria Stuarts, den Titel des „Siebenten Lords Seton“ übernahm. Im Jahre 1539 heiratete George Seton zum zweiten mal; seine neue Ehefrau war Marie du Plessis, eine Hofdame, die mit Maria von Guise nach Schottland gekommen war. Durch diese Verbindung nahm Seton engen Kontakt mit dem königlichen Hof auf. Zusammen mit Marie du Plessis hatte er drei weitre Kinder: Robert, James und Mary Seton. Mary Seton sollte eine der Ehrenjungfern Maria Stuarts werden. Über Robert und James Seton ist nur bekannt, dass der letztere um 1562 starb, während der erstere ein Jahr später noch am Leben war. Es wird vermutet, dass David Seton der Sohn von einem der beiden gewesen sein muss. In diesem Fall wäre er der Enkel des Sechsten und Neffe des Siebten Lords Seton.

Der Historiker Whitworth Porter, der Zugang zu den Archiven der Hospitaliter in Valetta hatte, teilte im Jahre 1858 mit, dass David Seton der letzte Prior Schottlands gewesen sei und sich um 1572 / 73 mit dem größten Teil seiner schottischen Ordensbrüder zurückgezogen haben soll. Er fügt hinzu, dass David Seton im Jahre 1591 (zehn Jahre später als das von George Seton angegebene Datum) gestorben und in der Kirche der schottischen Benediktiner in Ratisbon begraben sei. Auch Porter zitiert das Gedicht „Die heilige Kirche und ihre Diebe“, allerdings mit einer etwas veränderten vorletzten Zeile. Sie lautet in der Version von 1896: „Doch spürt der Tempel kein Verzagen.“ Porter zitiert sie als: „Doch spürt der Orden kein Verzagen.“

Selbst im 19. Jahrhundert handelt es sich hier offenbar um einen heiklen Punkt. Der Begriff „Tempel“ ist ganz eindeutig, während mit dem Wort „Orden“ sowohl die Hospitaliter als auch die Templer gemeint sein könnten. Hatte George Seton den Text bewusst verfälscht? Welches Motiv sollte er gehabt haben? Wenn eine Version verfälscht wurde, dann wahrscheinlich eher die frühere. Durch die Änderung von Orden in Tempel war nichts zu gewinnen, während die Änderung von Tempel in Orden die Ritter des heiligen Johannis von dem Verdacht befreit hätten, Templer in ihrer Mitte zu verbergen.

Die Frage wäre offen geblieben, wenn man nicht eine frühere Version des Gedichts - 1843 gedruckt, also fünfzehn Jahre vor Whitworth Porters Zitat – gefunden hätte. Der Text stammt nicht aus den Archiven von Valetta, sondern aus den schottischen Quellen, die noch später untersucht werden. Vorläufig gilt die Fassung „Doch spürt der Tempel kein Verzagen.“

 

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